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Das Maedchen am Klavier

Das Maedchen am Klavier

Titel: Das Maedchen am Klavier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rosemarie Marschner
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zurückgebracht werden, hatte man Clara versprochen, und das genügte, dass sie sich freute und ihre Mutter und die Großeltern ohne Bedauern zurückließ.
    Erst im Laufe der Jahre war die Sehnsucht erwacht, jene schöne junge Frau mit den dichten schwarzen Locken wiederzusehen. An ein blasses Gesicht erinnerte sich Clara noch und an dunkle Augen wie ihre eigenen und auch die Augen Alwins und Gustavs. Lange Briefe voller Liebe kamen aus Berlin und so viele Fragen, die kaum beantwortet wurden, denn Clara, der die Korrespondenz aufgetragen war, wusste bald nicht mehr, was sie schreiben sollte. Immer ferner rückte die weiß gekleidete Gestalt, immer unwirklicher erschien alles, was sie berichtete. Die »Berliner Mutter« nannten Alwin und Gustav die ferne Frau, an die sie sich nicht erinnern konnten. Ihre wahre Mutter war Clementine, die »Mama«, der sie vertrauten, obwohl sie zu Beginn ihrer Ehe fast noch ein Kind gewesen war.
    Clara hatte Clementine nie »Mama« genannt, immer nur »Mutter«, weil ihr diese Anrede sachlicher erschien. Die beiden hatten nie zueinander gefunden, denn für Clara zählte immer nur ihr Vater.
    Mehrmals hatte es in all den Jahren Zeiten gegeben, in denen sich Clara danach sehnte, sich ihrer wirklichen Mutter anzuvertrauen. Bestimmt kannte sie das Leben und wusste Rat, wie man entscheiden sollte. »Was denkst du über Robert Schumann?«, hätte Clara gern gefragt und immer wieder: »Was soll ich tun, Mama? Was, um Gottes willen, soll ich tun?«
    Einige Male war sie mit ihrem Vater in Berlin gewesen, und immer hatten sie im vornehmen »Hôtel de Russie« logiert – eigentlich viel zu teuer, fand Friedrich Wieck, doch er war überzeugt, »wer im ›Hôtel de Russie‹ wohnt, ist in Berlin gleich zehn Prozent mehr wert.«
    Clara wusste inzwischen, dass die evangelische Kirche nur einen kurzen Fußweg vom Hotel entfernt war. Doch Friedrich Wieck erklärte immer, man habe keine Zeit. Außerdem wünsche Frau Bargiel keine Besuche. »Sie hat ein neues Leben, einen neuen Ehemann und neue Kinder. Sie will, dass man sie in Ruhe lässt.«
    »Aber warum dann ihre Briefe? Sie schreibt doch, dass sie ihre Kinder sehen möchte.«
    Darauf wusste Friedrich Wieck keine Antwort. »Eineinhalb Stunden«, entschied er schließlich widerwillig. »Von elf bis halb eins. Dann hole ich dich ab, und ich möchte keine Diskussionen. Um halb eins ist Schluss, was auch immer die Dame einwendet.«
    Ein dreigeschossiges Stadthaus, vor langer Zeit für eine einzelne Familie geplant, nun aber aufgeteilt in mehrere Wohnungen für Mieter, die einst wohl bessere Zeiten gesehen hatten. Keine Armutsbehausung, doch eine Wohnstätte, die schon auf den ersten Blick von Rückschritt zeugte. Noch hielt der Stuck über den Fenstern, doch der übrige Außenputz bröckelte bereits, und niemand schien vorzuhaben, den gepflegten Eindruck von einst wiederherzustellen. Noch sah man Stores und Gardinen hinterden Scheiben, doch die Stoffe waren vergilbt und mürbe. Die hier lebten, kämpften sichtlich darum, ihren gesellschaftlichen Abstieg aufzuhalten oder zumindest zu verbergen.
    Das Haustor war unverschlossen. Clara trat ein und suchte im Halbdunkel nach Hinweisen auf die Bewohner. Erst im zweiten Stockwerk fand sie den Namen, der im Hause ihres Vaters so verpönt war. »Bargiel« stand da in selbst gravierter Zierschrift auf einer kleinen Holzplatte. Clara dachte an das fein ziselierte Messingschild am Haustor der Grimmaischen Gasse Nr. 36, das jede Woche poliert wurde und den Wohlstand und die Bedeutung der Bewohner demonstrierte.
    Auch die jetzige Frau Bargiel war einst Herrin eines Leipziger Stadthauses gewesen, jung noch, aber schon hoch angesehen, weil es ihr Gatte zu etwas gebracht hatte. Nun stieg sie wohl täglich die ausgetretenen Mietshausstufen in den zweiten Stock hinauf, an der Hand vielleicht ein Kind oder gar mehrere, Claras Halbgeschwister, von denen sie nicht einmal genau wusste, wie viele es derzeit waren.
    »Bargiel«. Im übrigen Haus war es still, doch aus der Wohnung drang gedämpftes Klaviergeklimper. Ein Kinderlied unter den ungelenken Fingern eines Anfängers. Keine zwei Töne folgten unmittelbar aufeinander. Ganz plötzlich wurde Clara von Furcht ergriffen vor der Begegnung, die nun bevorstand. Sie erwartete eine hübsche junge Mutter, obwohl inzwischen doch so viele Jahre vergangen waren. Lächelnd und zärtlich würde sie ihr Kind empfangen, das ihr – wie in Leipzig viele versicherten – so ähnlich sah.

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