Das Maedchen am Klavier
Schneeflocken taumelten.
»Papa!«, rief Clara und wollte ihm nachlaufen. Doch der Postillion packte sie am Arm und schob sie in die Kutsche. »Keine Sentimentalitäten, Mamsellchen«, knurrte er und umhüllte sie mit einer Wolke von Schnapsgeruch.
»Kommen Sie, ma cousine!«, drängte auch die Französin, die bereits Platz genommen hatte. »Vite, vite! La douce France erwartet uns.«
Die Kutsche setzte sich in Bewegung und fuhr an Friedrich Wieck vorbei, der auf dem glatten Bürgersteig dahinstolperte. So einsam. So verlassen. Einen Augenblick lang sah er fast aus wie Robert Schumann. Voller Liebe und Entsetzen starrte Clara ins Dunkel und winkte ihm zu. Doch er heftete den Blick auf den Boden, gehetzt und verzweifelt, als wäre er auf dem Weg in die Hölle.
Die erste Station ihrer Reise war Nürnberg. Bereits die Fahrt dahin glich einer Katastrophe. So dicht fiel der Schnee, dass der Postillion auf der Straße nicht mehr weiterkam und auf die Felder und Wiesen auswich, die der Sturm leer gefegt hatte. Bei jeder Unebenheit wurden die Passagiere hochgeschleudert, dass sie mit dem Kopf an den Plafond der Kutsche stießen. Während sie nochaufkreischten, plumpsten sie bereits wieder auf den Sitz zurück. Es war ein einziges Geschrei und Gejammer. Erst nach etwa zwei Stunden hörte das Schneetreiben auf und die Kutsche fuhr wieder auf die Straße zurück. Nach dem Gerumpel und Gerappel kam den Fahrgästen die übliche Unbequemlichkeit fast schon wie ein Luxus vor und sie waren erleichtert, dass wenigstens kein Rad gebrochen war oder gar die Achse.
Claudine Dufourd war außer sich. Sie habe es ja schon immer gewusst: Dieses Deutschland sei barbarisch. Niemals würde man in Frankreich einer Frau eine derartige Strapaze zumuten. All die großen Damen, die sie während ihrer Tätigkeit als Gesellschafterin begleitet habe, hätten bei einer solchen Witterung niemals einen Fuß aus dem Haus gesetzt, geschweige denn eine schäbige Postkutsche bestiegen ... Dies alles in französischer Sprache, bis Clara sie anfuhr, sie solle endlich den Mund halten, und wenn sie schon etwas zu sagen habe, dann wenigstens auf Deutsch. »Noch sind wir nicht in Frankreich, Mademoiselle. Im Übrigen können Sie bereits in Nürnberg eigener Wege gehen, wenn Ihnen diese Reise nicht passt.«
Damit löste Clara erst recht einen Wortschwall aus. »Ich habe einen Vertrag, ma cousine!«, rief die Französin. »Er gilt von Leipzig bis Paris und danach wieder zurück nach Leipzig. Sie haben kein Recht, mich zu entlassen. Ich könnte Sie verklagen und würde jeden Prozess gewinnen.«
Clara spürte eine Wut in sich aufsteigen, die ihrem Vater alle Ehre gemacht hätte. »Der Vertrag interessiert mich nicht!«, antwortete sie kalt. »Wie Sie vielleicht wissen, bin ich noch nicht geschäftsfähig. Wenn Sie Beschwerden haben, wenden Sie sich an meinen Vater. Den können Sie verklagen, nicht mich.« Danach fragte sie die Französin, die sie bei sich immer nur »die Französin« nannte, wie sie sich ihre Tätigkeit als Reisebegleiterin überhaupt vorstelle.
Die Französin beruhigte sich. »Ganz einfach, ma cousine«, antwortete sie in überlegenem Ton und zupfte an ihren Stirnlocken. »Ich begleite Sie zu Ihren Konzerten und gesellschaftlichenVerpflichtungen – ganz offiziell als eine Verwandte, die auf Ihren Ruf achtet. Als Cousine eben, denke ich.«
»Bisher hatte ich eine Zofe, die sich um meine Kleidung kümmerte und mir Besorgungen abnahm.«
Die Französin schüttelte beleidigt den Kopf. »Ich bin keine Zofe, ma cousine. Ich könnte eher verlangen, dass Sie mir eine Zofe zur Verfügung stellen. Zumindest eine für uns beide gemeinsam.«
Clara dachte an die Methoden ihres Vaters, der in einer solchen Situation »Wehret den Anfängen!« gesagt hätte. So stellte sie – in ihrer Muttersprache – klar, was sie von ihrer Begleiterin erwartete: sämtliche Dienste, die bisher Nanni für sie geleistet hatte und außerdem Diskretion. »Kein Spionieren und Herumschnüffeln. Keine intimen Mitteilungen an meinen Vater. Andernfalls fliegen Sie bei der nächsten Station.«
Die Französin schwieg lange. Sie hatte aufgehört, mit ihren Löckchen zu spielen. »Einverstanden«, lenkte sie dann ein. Das Leben hatte sie gelehrt zu erkennen, wann sie sich fügen musste. »Ich habe nur eine einzige Bedingung, aber die ist mir wirklich ernst.«
»Als da wäre?«
»Die Zofen der Damen, mit denen ich bisher unterwegs war, wurden gewöhnlich in den Dienstbotenkammern
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