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Das Maedchen am Klavier

Das Maedchen am Klavier

Titel: Das Maedchen am Klavier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rosemarie Marschner
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Hätte Friedrich Wieck ein Tagebuch geführt, hätte er sich darin wohl in gleicher Weise über Marianne geäußert. Geschriebenes konnte in fremde Hände gelangenund war somit potentiell öffentlich. Da aber der Schein unter allen Umständen gewahrt werden musste, gab es auch keine Privatheit des Geschriebenen. Wenn die Wirklichkeit von der Konvention abwich, verwandelten sich die Worte auf dem Papier scheinbar zur Lüge. Trotzdem wurden sie nicht so ausgelegt, weil auch der Leser die Regeln kannte und nach ihnen bewertete.
    »Mein geliebter Gatte«, schrieb deshalb auch Marianne, als sie Friedrich Wiecks Brief beantwortete. Sie versicherte ihm, wie sehr er von allen vermisst werde, und sie beschwor ihn, so schnell wie möglich zu seinen Lieben zurückzukehren.
    »Gut, dass Papa nicht da ist!«, sagte Alwin, als seine Mutter ihr Siegel auf den Brief drückte.
    Doch Marianne lächelte nur. »Das sagt man nicht, mein Junge«, mahnte sie milde und bereitete ihren Sohn damit sanft auf das richtige Verhalten vor in der Welt, in der er sich später zurechtfinden sollte und in der das »man« mehr zählte als das »ich«.
    Weihnachten ging vorbei und dann Silvester. Ganz Europa lag unter einer dichten Schneedecke. Ein Winter, so streng wie schon lang keiner mehr. Selbst im Hause war es kalt, weil die Kamine schlecht zogen und die Kälte von draußen durch alle Ritzen hereindrang. Die Kinder hielten sich am liebsten in der Küche auf, weil es dort am wärmsten war. Marianne erlaubte sogar, dass die Mahlzeiten am Küchentisch eingenommen wurden. Trotzdem hatten Alwin und Gustav verschnupfte Nasen, und das Dienstmädchen hustete in die Kochtöpfe. Nur Clara schien die Kälte nicht zu stören. Schon nach dem Frühstück lief sie in den Salon und setzte sich ans Klavier. Ihre Finger waren rot gefroren und kühlten sich an den Tasten noch mehr ab, doch Clara schien es nicht zu bemerken.
    Erstaunlicherweise funktionierte die Post. Regelmäßig trafen Briefe aus Wien ein. Begeisterte Briefe. Friedrich Wiecks Geschäfte liefen sogar noch erfolgreicher, als er es erhofft hatte. Trotzdem wäre er inzwischen gern nach Leipzig zurückgekehrt.Die Erinnerung an seinen Unfall ließ ihn jedoch zögern. »Als Familienvater darf ich mich nicht unnötig in Gefahr begeben«, schrieb er. »Bei der ersten Wetterbesserung will ich mich aber auf den Weg machen.« Dann ermahnte er Marianne, die täglichen Spaziergänge trotz der Kälte nur ja nicht zu vernachlässigen. Vor allem für Clara sei es wichtig, stets in guter Verfassung zu sein. »Mens sana in corpore sano«, schärfte er Marianne ein. »Unser kleines Klavierwunder muss stark sein, auch körperlich. Das Blut muss mit Kraft durch den Körper strömen, dann findet auch der Geist seinen Weg.« Marianne schüttelte den Kopf und war zum ersten Mal froh, dass Clara dem Vater ganz gewiss nicht erzählen würde, wie seine Familie während seiner Abwesenheit lieber die Nähe des Ofens gesucht hatte, statt sich den kraftspendenden Nordwind ins Gesicht wehen zu lassen.
    Eine Gewohnheit war entstanden, die nach und nach zur Selbstverständlichkeit wurde. Zu Beginn hatte Adolph Bargiel Marianne nur hin und wieder besucht. Inzwischen aber verbrachte er täglich viele Stunden im Hause Wieck. Manchmal kam es ihm fast vor, als wäre dies sein Heim und die Menschen hier seine Familie. In seiner eigenen Stube unter dem Dach fühlte er sich verloren. Er meinte, hier müsse er erfrieren. Jeden Abend hatte er Angst davor, dorthin zurückzukehren.
    Wenn er nach Hause ging, trug er in einem Korb ein paar Ziegelsteine mit sich, die Johanna Strobel im Ofen erwärmt hatte, bis man sie kaum noch anfassen konnte. Wenn Adolph Bargiel aufbrach, wickelte Johanna die Ziegel in eine Wolldecke, und er beeilte sich heimzukommen, damit sie unterwegs nicht auskühlten. Sie wärmten sein Bett, während er hoffte, schnell einzuschlafen, damit er nicht spüren musste, wie nach und nach die Kälte wieder an ihm hochkroch.
    An den Abenden, an denen er im Orchester spielte, fehlte ihm diese Wärmequelle. Sein Bett war so klamm, dass er manchmal meinte, es wäre feucht wie schmelzendes Eis. An solchen Abenden wurde ihm bewusst, dass er arm war. Ein Bohemien, dendie Realität des Winters überfallen hatte. Zitternd und mit klappernden Zähnen lag er dann in seinem Bett. »Mein eisiger Sarg«, murmelte er manchmal und merkte nicht, dass seine Wangen nass von Tränen waren.
    Er war einsam. Wenn im Frühling die Menschen wieder ins

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