Das Maedchen am Klavier
sollte. »Ich fange für dich zu schreiben an. Später wirst du die Aufzeichnungen selbst weiterführen«, erklärte er und zeigte Clara das rot gebundene Buch mit dem kostbaren, gold gerahmten Lederrücken. Wohlwollend beobachtete er, wie Clara das Buch staunend in die Hand nahm und die Seiten fächerförmig auseinanderfallen ließ.
»Es geht gar nicht richtig auf«, sagte sie enttäuscht. »Wie soll man da etwas hineinschreiben?«
Da schlug ihr Vater das Buch so gewaltsam auf und öffnete es so weit, dass der Rücken knackte. »So ist es mit allen Dingen«, murmelte er und freute sich über die Mehrdeutigkeit seiner Bemerkung. »Was funktionieren soll, muss zurechtgebogen werden.«
Von da an berichtete er in Claras Namen über alle wichtigen Vorkommnisse ihres Lebens, vor allem aber über den Unterricht, den er ihr erteilte. »Ich lerne sehr schnell«, schrieb er, als spräche Clara selbst, »sodass ich von vierhändigen Stücken meist die linke Partie spielen darf: Czerny, Sonaten . Cramer, Etüden . C. Field, Polonäse in Es .« Bald wurde auch von den ersten Elementen der Theorie berichtet: »Von allen Tonarten finde ich blitzschnell die Unter- und Oberdominanten-Akkorde und moduliere in alle Dur- und Moll-Akkorde durch den verminderten Septimen-Akkord auf dem Leitton der Dominante.«
Am achten Geburtstag vermerkte das Tagebuch, dass Clara vor einigen auserwählten Freunden ihres Vaters Mozarts »Es-Dur-Konzert« gespielt hatte – nach dem Urteil der Zuhörer »mit brillantem Anschlag und singendem Ton, meisterlich schön, wie man es kaum je zu hören bekommt«.
Zu dieser Zeit hatte Clara bereits jene Einseitigkeit erlangt, die für ihren Vater das Kennzeichen eines Virtuosen ausmachte. Das Klavier war der Mittelpunkt ihres Lebens. Die Schule lief nebenher und würde bald beendet sein. Es gab keine Freundin, keine Haustiere, kein Spielzeug und nicht einmal Bücher. Die einzige Abwechslung des Tages bildeten die gesundheitsfördernden Spaziergänge, die an bestimmten Wegmarken durch gymnastische Übungen ergänzt wurden, damit auch wirklich jeder einzelne Muskel des Körpers durchgearbeitet und gekräftigt wurde. Friedrich Wieck hatte die Übungsreihe selbst erdacht und bestand darauf, dass sie bei jedem Spaziergang durchexerziert wurde. Danach gab es für Clara nur wieder den Weg ans Klavier. Geübt hatte sie an jedem Tag schon genug. So setzte sie sich hin und fantasierte mit geschlossenen Augen in die Tasten hinein: eigene Melodien in eigenem Rhythmus, bis ihr Vater ins Tagebuch schrieb, ab nun werde er seiner Clara auch Kompositionsunterricht erteilen. Ihre künstlerische Entwicklung verlange es so.
Er spürte, dass Claras Lehrzeit zu Ende ging. Bald würde sie vor ein größeres Publikum treten können. Obwohl Friedrich Wieck manchmal vor Ungeduld zitterte, war er doch entschlossen, in kleinen Schritten voranzugehen. Zu oft war von Wunderkindern berichtet worden, die einem Blitzschlag gleich die Konzertbühne eroberten und ebenso schnell wieder aus der Öffentlichkeit verschwanden. Friedrich Wieck wusste, dass die Bühne ihre Kinder fraß, wenn sie nicht gefestigt genug waren, um mit den Strapazen der Reisen und der Einsamkeit nach dem Applaus fertig zu werden, vor allem aber mit dem Erfolg selbst, der schwerer zu verkraften war als alles andere. So viele Schmeicheleien, so viel Zuwendung, so viele Geschenke, die Begegnung mit so vielen Menschen, dass kaum einer im Gedächtnis blieb ...Ein Leben wie im Mittelpunkt eines Sturms, der an allem vorbeibrauste, sodass am Ende nur der Sturm selbst zurückblieb oder die Erinnerung an ihn: an den Applaus, der aufstieg und verebbte und zuletzt eine unendliche Stille zurückließ und die Sehnsucht nach seiner Wiederholung, nach dem Rausch, den er auslöste und den manch Süchtiger durch andere Mittel zurückzuholen suchte.
Die Bühne war ein Moloch, das wusste Friedrich Wieck, und er war entschlossen, sein Clärchen zu beschützen. Clara Wieck würde keine Eintagsfliege sein. Clara Wieck würde sein wie keine andere vor ihr und keine danach. Eine wahre Virtuosin. Eine Göttin der Musik. Und er, Friedrich Wieck, war ihr Schöpfer, Vorbild für alle, die jemals die Förderung eines Talents anstreben würden. Der magere kleine Fritze aus Pretzsch griff nach den Sternen.
2
Es war ein glühender Sommertag, fast zu heiß, um noch angenehm zu sein. Da der Vater schon seit mehr als zwei Wochen verreist war, hatte Clara wegen der Hitze den täglichen Spaziergang
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