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Das Maedchen am Klavier

Das Maedchen am Klavier

Titel: Das Maedchen am Klavier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rosemarie Marschner
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lobte, lobte, lobte. Nur hin und wieder fand sich eine Bemerkung, die darauf schließen ließ, dass auch sie eineigenes Leben führte. Ein Knabe sei geboren worden, teilte sie mit. Sein Name sei Viktor, und Gott möge ihn beschützen ... Doch Gott hatte ihn wohl nicht beschützt, denn nach einigen Monaten erwähnte sie wie nebenbei, der kleine Viktor sei nun bei den Engeln. Danach schrieb sie lange nichts mehr über sich selbst, außer dass sie Klavier- und Gesangsunterricht erteile und dass Berlin eine sehr große Stadt sei, in der sich manch einer sehr einsam fühle. Später erwähnte sie erneut die Geburt eines Kindes. Wieder ein Knabe, den die Engel diesmal im großen Berlin bleiben ließen. Dann wieder ein Kind, so gut wie jedes Jahr eines.
    Die drei Kleinen in Leipzig konnten sich eine solche Entwicklung nicht vorstellen. Vor allem war die Mutter so vieler fremder Kinder irgendwie nicht mehr ihre eigene Mutter. Die eigene Mutter hatte in Leipzig gelebt, und sie hatte nur drei Kinder gehabt sowie eines, das ebenfalls die Engel geholt hatten. Vielleicht, so überlegte Clara manchmal, spielten die kleine Adelheid und der kleine Viktor da oben im Himmel miteinander. Sie schauten hinunter auf Leipzig und auf Berlin und wunderten sich wohl, was das für eine seltsame Familie war mit so vielen Kindern von derselben Mutter, die sich um die einen kümmerte und den anderen nur Briefe schrieb.
    Clara hörte, dass jemand die Treppe heraufkam. Eine Frau lachte und danach ein Mann. Erst als sich das Lachen wiederholte, erkannte Clara, dass es die Stimme ihres Vaters war. Sie erschrak so sehr, dass sich ihre Kopfhaut anspannte. Sie meinte, die Haare müssten ihr zu Berge stehen. Dann wurde die Tür aufgestoßen. Wie ein ertappter Eindringling stand Friedrich Wieck im Zimmer, während das Lachen auf seinem Gesicht erstarrte. Ein unvertrautes Lachen, das Clara irgendwie unanständig vorkam, obgleich sie nicht hätte erklären können, warum.
    In diesem Augenblick war ihr Vater ein Fremder für sie. Sie kannte ihn als Lehrer – aufmerksam und streng. Sie kannte ihn voller Freude und Stolz, wenn ihre Leistung ihn beglückte. Sie kannte ihn im Streit mit Marianne oder voller Abscheu und Verachtung, wenn er von seinem einstigen Freund sprach. Sogar einwenig betrunken kannte sie ihn, wenn er an den musikalischen Abenden in seinem Salon dem Gerstenbier oder dem Wein zu lebhaft zugesprochen hatte. All das war ihr vertraut und noch vieles mehr, sodass sie sich zum ersten Mal bewusst wurde, wie eng verbunden sie diesem Mann war, ihrem Vater, ihrem Lehrer, ihrem Förderer, der bereit war, sich ihr und ihrer Karriere nicht nur zu widmen, sondern sich ihr regelrecht hinzugeben.
    Nun aber stand er in der Tür und war ein ganz anderer. Ein Fremder. Clara wusste nicht, woran es lag, doch auf eine seltsame Weise fühlte sie sich abgestoßen, und sie schämte sich für ihn.
    »Clara!« Die Stimme des Vaters zitterte, wie Clara es noch nie zuvor gehört hatte. Sein Gesicht war hochrot und von Schweiß überströmt. An seiner linken Schläfe pochte eine Ader – während der Unterrichtsstunden ein untrügliches Zeichen aufsteigenden Zorns, vor dem die Knaben in die Ecke flüchteten und der Clara zur Höchstleistung trieb. »Clara!«
    Clara sprang auf und lehnte sich schutzsuchend mit dem Rücken ans Klavier. »Ich bin heute zu Hause geblieben«, flüsterte sie. »Es war so heiß. Morgen gehe ich bestimmt wieder spazieren.« Sie räusperte sich. »Ich kann auch heute noch gehen, wenn es dir lieber ist. Wirklich, es ist das erste Mal, dass ...« Sie unterbrach sich und starrte auf die Person, die plötzlich wie ein Schatten hinter dem Vater aufgetaucht war.
    Eine junge Frau, fast noch ein Mädchen. Auch ihr Gesicht war gerötet. Aus ihrem straff zurückgeknoteten mittelblonden Haar hingen ein paar Strähnen, als hätte sie sich zum Mittagsschlaf hingelegt und danach vergessen, sich wieder zu kämmen. Auch sie schien überrascht zu sein, Clara so plötzlich zu sehen, doch sie beruhigte sich schneller als Friedrich Wieck, der immer noch nach Fassung rang. Mit ungläubigem Staunen bemerkte Clara, dass die Fremde dem Vater einen aufmunternden Stoß versetzte, wie um ihn zum Reden zu bewegen. Als er trotzdem schwieg, trat sie entschlossen an seine Seite. »Du bist also die Clara«, sagte sie mit einer lauten, stark dialektgefärbten Stimme. »Ich bin deine neue Mutter.«
    Clara war noch nie ohnmächtig geworden, doch jetzt hätte sie sich am liebsten

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