Das Maedchen am Klavier
ausfallen lassen – in den Augen ihres Vaters eine unerhörte Pflichtvergessenheit. Regelmäßige Verrichtungen würden zu Gewohnheiten, pflegte er zu sagen, und Gewohnheiten zu Charaktereigenschaften. Eine Clara Wieck lasse auch bei Hitze nicht von dem ab, was sie als richtig erkannt hatte. Wenn sie es dennoch tue, beweise sie Schwäche, und die Schwachen – das bekam sie mehr als einmal zu hören – erreichten nie, was sie sich vorgenommen hatten.
Ein Glück, dachte Clara und schob ihre Ärmel hoch, dass der Vater nie von ihrem Ungehorsam erfahren würde. Die Dienstboten hielten dicht, und Alwin und Gustav hatten selbst Butter auf dem Kopf. Wenn der Vater nicht in der Stadt war, kamen sie nach der Schule kaum noch nach Hause. Stattdessen trieben sie sich mit ihren Freunden in der Stadt herum.
Am aufregendsten fanden sie wohl den Marktplatz, vor allem zur Zeit der Messe, wenn sich die Buden, Zelte und Stände dicht an dicht drängten und die Planwagen der Händler die Nebenstraßen verstopften. »Weiße Elefanten« nannte man diese Gefährte, die mit ihrer Warenlast aus allen Himmelsrichtungen herbeigeströmt waren. Eine Welt für sich, in der es von Menschen wimmelte, wie man sie sonst kaum zu Gesicht bekam: vollbärtige Russen in hellen Kitteln und Stiefeln; orientalische Kaufleute mit Pluderhosen und roten, topfartigen Kopfbedeckungen; Buchhändler in vornehmen weißen Anzügen und mit schwarzen Stiefeln und Zylindern; dazwischen rotlippige junge Frauen, die aufreizend tanzten oder seltsamen Musikinstrumenten fremdartige Töne entlockten. Alwin und Gustav hatten beobachtet, dass manchmal eine der Frauen auf den Wink eines Zuhörers ihr Spiel unterbrach und dem Fremden in eine Nebenstraße folgte. Wahrscheinlich, so vermuteten die Knaben, war er aber auch kein Fremder für sie, sonst wäre sie ja nicht mit ihm weggegangen.
Jeder schien hier mit jedem vertraut zu sein. Die Bürgerkinder, die diese unbekannte Welt staunend beobachteten, hätten am liebsten von einem Augenblick zum anderen ihr gesichertes Dasein im elterlichen Haushalt verlassen, um in dem fremdartigen Dschungel unterzutauchen und sich für immer darin zu verlieren. Sie sehnten sich nach Abenteuern, obwohl sie nicht einmal wussten, was das bedeutete.
Den Geboten des Vaters zu trotzen war schon ein Abenteuer für sich. Clara hatte ihre Brüder im Verdacht, dass sie seit Tagen die Schule schwänzten, auch wenn zu dieser Jahreszeit der in der Hitze erstarrte Marktplatz nur wenig Anreiz bot. Dafür lockte es die Knaben aber wohl zu den Teichen vor der Stadt, denn wenn sie zum Abendbrot gerade noch rechtzeitig nach Hause kamen, waren ihre Haare immer noch zerzaust und feucht.
Für Clara gab es solche Ausweichmöglichkeiten nicht. Der entfallene Spaziergang hinterließ eine fast beunruhigende Leere. Clara fragte sich, was andere Mädchen mit ihren freien Stundenanfingen. Wahrscheinlich besuchten sie einander, spielten oder lasen in ihren Büchern. Erst jetzt fiel Clara auf, wie wenige Bücher es im Hause ihres Vaters gab. Nur theologische Lexika aus seiner Studienzeit, musikalische Standardwerke und Noten. Dabei verfasste Friedrich Wieck selbst regelmäßig Aufsätze für Musikzeitschriften, und er erwähnte hin und wieder, dass er schon seit längerem an einem Lehrbuch zum Klavierunterricht arbeite. Einmal durfte Clara auch zuhören, als er seinen Abendgästen eine seiner Publikationen vorlas. Es handelte sich um einen bitterbösen Angriff auf den Verfall der Gesangskunst in Europa. Den Zuhörern hatte es wohl gefallen, denn sie applaudierten lebhaft und diskutierten anschließend noch mehrere Stunden. Clara, das Kind, hatte allerdings kaum ein Wort verstanden. Die Pamphlete ihres Vaters waren kein Mittel, sie zum Lesen zu verlocken.
In der Schule erzählte der Lehrer manchmal Märchen als Belohnung für getane Arbeit, was bedeutete: meistens am Nachmittag, wenn Clara bereits nach Hause gegangen war. Zuweilen ließ sich der Lehrer aber schon gegen Mittag von den Bitten seiner Schülerinnen erweichen. Dann hörte auch Clara die aufregenden Geschichten von Prinzessinnen, Hexen und tapferen Handwerksburschen. Sie konnte gar nicht genug davon bekommen. Wenn sie ihrem Vater davon berichtete, murmelte er etwas wie »Papperlapapp« und »Zeitverschwendung«. Clara solle lieber üben oder am Klavier fantasieren. Das würde sie weiterbringen, nicht dieser romantische Schwachsinn, der immer mehr in Mode komme. Damit war das Thema beendet.
Clara sprach
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