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Das Maedchen am Klavier

Das Maedchen am Klavier

Titel: Das Maedchen am Klavier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rosemarie Marschner
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nicht mehr davon. Nur manchmal hatte sie das Gefühl, dass ihr etwas fehle – so sehr, dass sie zu weinen begann und nicht mehr aufhören konnte, bis sie eingeschlafen war.
    In unregelmäßigen Abständen trafen Briefe ihrer Mutter ein: zu Beginn fast zweimal in der Woche, danach immer seltener. Friedrich Wieck nahm die Schreiben entgegen, öffnete sie und las sie den Kindern am Mittagstisch vor, während sie ungeduldig aufdas Essen warteten. Im hastigen Tempo eines Notars, der einen zwanzigseitigen Vertrag durchzuhecheln hat, präsentierte er den Kindern die sehnsüchtigen Worte ihrer Mutter, die im Geröll seiner Sprechweise versickerten. Den Kindern wurde nicht einmal richtig bewusst, dass dies die Nachrichten ihrer Mutter waren, dieses warmherzigen, heiteren Wesens, das zu Beginn ihres jungen Lebens der Mittelpunkt aller Bedürfnisse gewesen war und zugleich auch deren Erfüllung.
    »Ich umarme euch voller Liebe«, hieß es noch, da leerte Johanna Strobel schon die Suppenkelle über den Tellern aus, und die Kinder griffen nach ihren Löffeln. Ohne eine weitere Bemerkung faltete Friedrich Wieck das unwillkommene Schreiben wieder zusammen und steckte es in seine Brusttasche. Nach dem Essen warf er es achtlos in die unterste Lade seines Sekretärs, wo schon die vorangegangenen Briefe unordentlich übereinanderlagen. Am liebsten hätte er sie alle verbrannt, doch im Hinblick auf eine – wenn auch unwahrscheinliche – weitere gerichtliche Auseinandersetzung bewahrte er sie noch auf. Man konnte nie wissen. Bei Bargel und seiner Neuen liege so manches im Argen, wie man hörte. Da konnte es nicht schaden, gewappnet zu sein, auch wenn sich nicht einmal Friedrich Wieck vorstellen konnte, dass ihm die Mutter seiner Kinder noch in irgendeiner Weise gefährlich werden konnte.
    Als Clara lesen und schreiben gelernt hatte, bat sie einmal, einen eben eingetroffenen Brief der Mutter selbst vorlesen zu dürfen. Langsam und stockend entzifferte sie die unvertraute Handschrift. Trotzdem horchten die Knaben auf. Die Stimme der Schwester erinnerte sie an eine andere Stimme, die sie fast schon vergessen hatten. Eine weibliche Stimme, die die Worte ganz anders betonte als der Vater, der nur unwillig einer Pflicht genügte. Als Clara geendet hatte, nahm ihr Friedrich Wieck den Brief aus der Hand und befahl ihr schroff, das Schreiben noch am selben Nachmittag zu beantworten. Clara, die bisher noch nie einen Brief verfasst hatte, protestierte. Beim nächsten Mal ließ sie wieder ihrem Vater den Vortritt. Erst später, als sie ihreersten kleinen Erfolge erlebte, berichtete sie ihrer Mutter davon und wartete ungeduldig auf die Antwort, in der die Mutter sie voller Freude und Stolz lobte und beglückwünschte.
    Trotzdem war das Band zerrissen. Weder Clara noch ihre Brüder konnten sich mehr vorstellen, wie ihre Mutter ausgesehen hatte. Ein verschwommener Umriss einer Frau in heller Kleidung stand ihnen vor Augen, ein dichtes Gewirr schwarzer Löckchen und ein übermütiges Lachen. Lange, zärtliche Umarmungen und ein weicher Körper voller Wärme. Hin und wieder tauchte auch die Erinnerung an Zornesfalten auf und an lautes Gezänk. Streit mit dem Vater, immer wieder Streit, der ausbrach, ohne dass einer der beiden es eigentlich gewollt hatte. Streit, der Clara stumm gemacht hatte und die Knaben verstörte. Mama ... Hatte es sie überhaupt je gegeben? Und warum war sie plötzlich fortgegangen und hatte ihre Kinder im Stich gelassen? »Böse, böse Mama!«, hatte Gustav geklagt, als er begriff, dass alles Warten vergeblich war und der Mittelpunkt seiner kleinen Welt nie mehr zu ihm zurückkehren würde. »Böse, böse Mama!« Sein Vater hatte daraufhin nur genickt und »Ja, so ist es wohl!« vor sich hin gemurmelt.
    Ein glühender Sommertag, fast zu heiß, um angenehm zu sein. Clara saß noch immer am Klavier, doch ihre Hände lagen im Schoß: müßig, was ihr Vater missbilligte. »Müßige Hände – zweifelnder Geist!«, lautete sein Urteil. Clara begriff plötzlich, dass er damit recht hatte. Vielleicht war es nicht gut, sich zu viele Gedanken zu machen. Vielleicht war der Mensch wirklich nur auf der Welt, um tätig zu sein. Wenn ihr Tag bis zum Schlafengehen randvoll gefüllt war, kam sie nicht dazu, über sich selbst nachzudenken oder über diese ferne Frau, von der sie wohl geliebt wurde und die offensichtlich nicht aufhören konnte, an sie zu denken.
    Trotzdem schrieb sie so gut wie nie über sich selbst. Sie kommentierte bloß und

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