Das Maedchen am Klavier
Hauses. Mit einem aufmüpfigen kleinen Mädchen würde sie auch noch fertig werden.
2
Mit der Rückkehr des Hausherrn wurden die Rollen in der Familie endgültig verteilt. Vergessen die Zeiten, in denen Marianne seine Entscheidungen in Frage gestellt hatte. Keine Widerworte mehr mit lauter Stimme und blitzenden Augen. Keine ermüdenden Streitgespräche, die ihm noch stundenlang die Laune vergällten, weil er allzu häufig zugeben musste, dass die Argumente seiner Frau nicht unbegründet waren. Zweifel meldeten sich, obwohl eigentlich das letzte Wort bereits gesprochen war, denn das letzte Wort war immer noch das Wort des Hausherrn. So verlangte es die Tradition, und wie in einem Spiegel wiederholte sich die Hierarchie der Familie auch im Staat, dessen Bürger sich gegen die Obrigkeit ebenso wenig aufzulehnen hatten wie die Mitglieder einer Familie gegen den Vater. Wohin das Aufbegehren führte, hatte man ja in Frankreich gesehen.
Clementine Wieck war intelligent genug, sich nicht auf lange Diskussionen einzulassen. Bei Angelegenheiten, die ihr gleichgültig waren, schwieg sie ohnedies. Wenn ihr jedoch etwas wirklich gegen den Strich ging, zog sie sich in die kleine Mansarde unter dem Dach zurück, die ihr als Nähkammer diente. Sie setzte sich an den Tisch und stützte den Kopf in beide Hände. Dabei presste sie die Zähne aufeinander, als sollte jeder Widerstand auf der Stelle zermalmt werden. Sie zwang sich zur Ruhe, um die Situation mit kühlem Kopf zu beurteilen und jedes Für und Wider abzuwägen. Sie wusste, dass sie nicht die Klügste war – aber vielleicht die Schlaueste. Schlau genug, die eigene Position richtig einzuschätzen und sich nicht auf Kämpfe einzulassen, die sie nicht gewinnen konnte.
Der bitterste Kampf war der gegen ihre Stieftochter Clara. Erst nach und nach erkannte Clementine, dass sich ihr Gatte zwar als Herr im Hause fühlte, dass ihm aber nichts mehr bedeutete als der Erfolg seiner begabten Tochter. Ihr Ruhm würde auch der seine sein, und nur darauf arbeitete er hin.In den wenigen Tagen ihrer Brautzeit hatte Friedrich Wieck Clementine versprochen, er werde sie bei seiner nächsten Geschäftsreise nach Dresden mitnehmen – sie beide ganz allein, ein frischvermähltes Paar in einer schönen, fremden Stadt. Für Clementine, die noch nie umworben worden war, schien sich bei dieser Aussicht ein riesiges Tor zu öffnen. Fast liebte sie ihn, als er vom Duft der großen Welt sprach und von den prachtvollen Plätzen, die sie bald kennenlernen würde. Immer wieder dachte Clementine an diese Reise und wartete mit Ungeduld darauf, dass ihr Gatte endlich einen Termin benannte. Sie konnte es kaum fassen, dass er eines Morgens ohne sie aufbrach. Er sei in Eile, erklärte er. Er wolle seine Besprechungen möglichst schnell abschließen und dann gleich wieder nach Leipzig zurückkehren.
»Warum in Eile?«, fragte Clementine entgegen ihrer sonstigen Zurückhaltung. Nie würde sie ihm das Achselzucken verzeihen, mit dem er ihre Frage beantwortete.
»Clara ist jetzt so weit«, antwortete er. »Wenn meine Geschäfte abgeschlossen sind, werde ich mich hauptsächlich um ihre Karriere kümmern. Dann kommen wir ohnedies auch wieder nach Dresden.« Damit umarmte er Clementine beiläufig und verließ das Haus. Das Tor fiel zu, und Clementines Traum war ausgeträumt.
Diesmal saß sie besonders lange an ihrem Nähtisch. Als Berta kam, um zu fragen, ob das Nachtmahl serviert werden dürfe, antwortete Clementine nur, sie habe noch zu tun und werde daher ausnahmsweise nicht zum Essen kommen. »Kümmere du dich darum, dass die Kinder rechtzeitig schlafen gehen!« Als Berta besorgt nachfragte, ob etwas nicht in Ordnung sei, blickte Clementine nicht einmal auf. »Verschwinde endlich!«, fuhr sie die junge Frau an und hörte schon nicht mehr, wie jene beleidigt die Treppe hinunterlief.
Am liebsten hätte Clementine geweint, geschrien, vielleicht sogar getobt. Doch die pastorale Erziehung zur Mäßigung ließ ein solches Verhalten nicht zu. »Mach ihm das Leben leicht, dann wird es auch dir selbst gut gehen«, hatte der Rat der Muttergelautet, und Clementine wollte, dass es ihr selbst gut ging. Doch was bedeutete das für sie? In welchen Augenblicken konnte sie von sich selbst sagen, dass es ihr gut ging? Und was musste sie tun, um solche Augenblicke immer wieder erleben zu können? Sie dachte an ihre Hochzeit, so einfach und schmucklos, aber immerhin das Ereignis, das für die meisten jungen Bräute den Höhepunkt
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