Das Maedchen am Klavier
hatte Schmalzbrote gerichtet. Die Kinder und die Dienstboten scharten sich um den Küchentisch und ließen es sich schmecken. Auch Berta und Nanni aus dem Fechner’schen Haushalt, die bei der Übersiedlung mitgeholfen hatten, saßen da und machten keine Anstalten, endlich ins Pfarrhaus zurückzukehren.
Johanna Strobel runzelte die Stirn. »Bald ist es finster«, brummte sie mürrisch. »Es wird Zeit für euch.«
Eine unerwartete Stille entstand, die Alwin und Gustav nutzten, um mehr Brote an sich zu reißen, als ihnen zukamen.
Berta und Nanni blickten hinüber zu Clementine, die in der Tür stand, schweigend, obwohl auf einmal alle darauf warteten, dass sie das Schweigen, das plötzlich den Raum fast erdrückte,aufhob. Drüben im Salon schlug die Uhr. Niemand zählte nach. Die Zeit war stehen geblieben.
Johanna Strobel wartete noch eine Weile auf ein Wort der Entscheidung. Der Diener August erhob sich. »Madame!«, drängte er.
Doch Clementine schwieg. Sie wusste, dass sie jetzt nicht schwach werden durfte. Es reichte schon, dass sie sich um die fremden Kinder kümmerte. Für die alte Haushälterin der anderen brauchte sie sich nicht auch noch verantwortlich zu fühlen.
Von den Kindern spürte nur Clara, worum es ging. Sie war blass bis auf die Lippen, während sie zusah, wie Johanna Strobel ihre Schürze ablegte und fein säuberlich über eine Sessellehne hängte. Dann ging sie zur Tür. Clementine Wieck trat zur Seite, um sie vorbeizulassen.
Mit ihren schweren, schlurfenden Schritten stieg Johanna die Treppe hinauf und ging in die Dienstbotenkammer, wo ihr kleiner Pappkoffer noch unausgeräumt neben dem Bett stand. Daneben zwei andere Köfferchen, die vorher noch nicht da gewesen waren.
Clara sprang auf und lief der Haushälterin nach. Während Johanna Strobel nach dem Koffer griff, blickte Clara flehend zu ihr auf. »Hanne!«, wollte sie rufen wie früher, aber auf einmal wusste sie nicht mehr, wie man sprach.
Doch Johanna Strobel verstand sie auch ohne Worte. Sie legte ihre warme, harte Hand auf Claras Wange. »Armes Ding«, brummte sie. Dann wandte sie sich ab und stieg die Treppe wieder hinunter. Clara blieb an ihrer Seite und starrte sie an. Da war etwas noch nicht abgeschlossen, das eigentlich sogar erst noch entschieden werden musste.
Als sie an der Küche vorbeigingen, trat Clementine Wieck auf den Flur. »Es ist schon spät«, sagte sie sachlich. »Natürlich kannst du diese Nacht noch hierbleiben.«
Doch Johanna Strobel schüttelte den Kopf. Dann streckte sie fordernd die Hand aus. »Mein Lohn!«, sagte sie schroff. »Ich habe immer meine Pflicht getan.«
Clara dachte, dass ihre Stiefmutter nun auf den Vater verweisen würde, der ja schon für morgen erwartet wurde. Doch Clementine Wieck hielt das Heft des Haushalts bereits fest in der Hand. Sie brauchte nicht einmal zum Küchenschrank oder zum Sekretär zu gehen, um das Geld zu holen. Sie griff einfach nur in die Tasche ihres weiten Rockes und nahm das Säckchen aus Wildleder heraus, in dem Friedrich Wieck zweimal im Jahr den Lohn zu übergeben pflegte. Wie umsichtig sie doch war! Nur wenig über zwanzig, aber vorausschauend wie eine erfahrene Hausfrau. »Du kannst das Säckchen behalten«, sagte sie mit gleichgültiger Stimme.
Johanna Strobel antwortete nicht. Sie leerte die Münzen in ihre eigene Rocktasche und ließ das Säckchen einfach zu Boden fallen. Danach hob sie ihren Koffer wieder auf. Ohne sich noch einmal umzusehen, trat sie hinaus auf die Straße. Clara wollte ihr nachlaufen, aber ihre Stiefmutter rief sie zurück. »Clara!« – erst mit freundlichem Tadel, dann ungeduldig und ärgerlich. Clara blieb unschlüssig stehen. Sie sah Johanna Strobel nach, die schnell und schneller die Straße hinuntereilte. Keine Haushaltsschnecke mehr, nur eine müde alte Frau, die ihre letzten Kräfte zusammennahm, um ihre Würde zu bewahren. Am Ende der Straße verlor sie sich in der Dämmerung.
Clara ging ins Haus zurück. Sie pflanzte sich vor ihrer Stiefmutter auf und starrte ihr in die Augen. Clementine hielt ihrem Blick stand. Erst nach einer Weile gab sie nach. Sie versetzte Clara einen milden Klaps auf den Arm. »Iss dein Brot, Clara«, sagte sie leichtin. Sie hatte keinen Grund, sich herausfordern zu lassen. Immerhin hatte sie gesiegt. Clementine Wieck, geborene Fechner konnte endlich ihr wahres, von einer fremden Vergangenheit unbehelligtes Leben führen. Wie sie es sich immer gewünscht hatte, war sie die unangefochtene Herrin ihres
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