Das Maedchen am Klavier
ihrem ganzen Leben lachte sie über Paganinis mittelalterlichen Kratzfuß. Sie fürchtete schon, er würde vergessen, ihr ihr Stammbuch zurückzugeben, für das sie einen Eintrag von ihm erbeten hatte. Doch mit unnachahmlicher Grandezza reichte er es ihr. »Al merito singolare di Madamigella Clara Wieck« stand da, umgeben von unzähligen Noten wie kleine, schwarz gestielte Blumen, die Paganini für sie gezeichnet hatte.
Zuletzt umarmte der Maestro noch Friedrich Wieck und nannte ihn seinen Freund. Clara dachte, dass die beiden in diesem Augenblick wohl die magersten Männer hier in Leipzig waren, verschieden wie Tag und Nacht und doch irgendwie ähnlich.
3
Immer noch schneller drehte sich das Karussell, auf dem das Wunderkind Clara Wieck und ihr geschäftstüchtiger Vater in einem Universum kreisten, das einem Ballsaal glich. Immer weiter schien man sich fortzubewegen, immer tiefer in die Welt hinein, wo es doch in Wahrheit stets nur im Kreis herum ging und man sich um keinen Fußbreit von der Mitte, an die man unsichtbar gekettet war, entfernte. Immer neue Konzertsäle und vergoldete Räume. Immer neue Gesichter, die von den bisherigen nicht mehr zu unterscheiden waren. Tage vergingen so, Wochen und viele Monate. Längst machte der Vater die Tochter um zwei Jahre jünger und atmete erleichtert auf, wenn sie eines ihrer weißen Konzertkleider anzog und der tiefe Ausschnitt enthüllte, dass sie noch ein Kind war.
Ein Kind – und eine kleine Maschine, die längst gelernt hatte, die Stimmung der Zuhörer zu erfassen und zu bedienen. Mozart spielte sie gern, wenn sie allein war, ebenso Beethoven und Schubert. Dem Publikum aber bot sie, wie ihr Vater es anordnete, die Erfolgsstücke der Zeit, die fulminanten Zugnummern der mittleren Talente, die Bravourstücke, die nur einem wahren Virtuosen gelangen: so schnell, so laut und so kräftig, dass den Ohrenzeugen Augen und Mund offen blieben und sie sich neidlos eingestanden, dass sie selbst trotz allen Übens nie in der Lage sein würden, das Klavier in dieser souveränen Weise zu beherrschen.
»Eine wahre Künstlerin«, nickte man anerkennend und runzelte indigniert die Brauen, wenn das Wunderkind einmal vom glatten Weg der Zugnummern abwich. Aus einem inneren Drang heraus spielte Clara am Hofe von Weimar plötzlich Chopins »Variationen opus 2« – ungeplant, aus einer unerklärlichen Sehnsucht geboren. Dabei war ihr, als würde plötzlich die Luft reiner und die Lichter heller. Sie vergaß alles um sich herum, sogar ihren Vater, der mit den Augen rollte und sich achselzuckend beim erstaunten Publikum gleichsam entschuldigte.
Als Clara geendet hatte, waren ihre Wangen rosig wie nacheinem langen Spaziergang, und ihre Augen leuchteten. Sie merkte nicht, wie matt und lustlos der Beifall klang. Nur zögernd tauchte sie aus ihrer Verzauberung auf. Sie sah, dass sich die Herzogin missmutig erhob und, wie von einer plötzlichen Unpässlichkeit ergriffen, den Saal verließ.
»Was fällt dir ein!«, flüsterte Friedrich Wieck seiner Tochter zu. »Los, spiel eine Polonäse und ein paar Scherzi! Oder willst du, dass man uns nie mehr einlädt?«
Der Herzog schien Clara ihren Ausrutscher ins allzu Anspruchsvolle nicht übelzunehmen. Er rückte seinen Sessel an ihre Seite. »Das war sehr modern, mein gutes Kind«, murmelte er und legte kurz seinen Arm um ihre Schultern.
Clara rückte zur Seite. Sie hatte nicht gelernt zu argumentieren, aber irgendwie kam es ihr vor, dass es in Wahrheit genau umgekehrt war und ihre pikanten Bravourstücke eigentlich viel eher Ausdruck einer Mode waren, derer man überdrüssig werden konnte, weil trotz all der Triller und des vielen Beiwerks alles so einfach war, so eingängig und fast schon hohl.
Doch das kleine Genie hatte gelernt, zu gehorchen und vernünftig zu sein. Lächelnd verneigte es sich und ließ »La Violetta« von Herz aufklingen. Fast augenblicklich kehrte die Zufriedenheit in den Saal zurück. Entspannt lehnte man sich in die Kissen. Am Ende klatschte man in gewohnter Lautstärke.
An freundlichen Mienen vorbei verließen Friedrich Wieck und Clara schließlich den Saal. Zum Abschied überreichte ihnen der Hofmarschall vier Louisdor.
Friedrich Wieck atmete auf. Gott sei Dank war das Konzert doch noch ein Erfolg geworden! Im Hotel würde er allerdings noch ein ernstes Wort mit Clara reden müssen.
Nur ein einziges Mal, an einem unerwartet sonnigen Mittag im Oktober, schienen sich die Drehungen des Karussells zu verlangsamen.
Weitere Kostenlose Bücher