Das Maedchen am Klavier
Wieder stand ein Besuch bevor, einer von inzwischen fast schon hundert. Dennoch behauptete Friedrich Wieck, diesmal würde es etwas ganz Besonderes sein, »wichtiger als bei Hofeund wichtiger auch als bei meinem verehrten Freund Doktor Carus«.
Clara nickte gleichmütig und nahm zur Kenntnis, dass sie vor einem Herrn namens Goethe spielen würde, einem Dichter, der angeblich sehr berühmt war und – wie sie den weiteren Andeutungen ihres Vaters entnahm – uralt.
»Man verehrt ihn in der ganzen gebildeten Welt«, erklärte Friedrich Wieck. »Wenn er dir eine Empfehlung mitgibt, öffnen sich die Türen auch in den Metropolen für dich. Es ist ein Privileg, vor ihm spielen zu dürfen. Übrigens war auch Mendelssohn als Zwölfjähriger bei ihm eingeladen. Das ist zwar schon einige Jahre her, aber es hat dem Jungen sehr genützt.«
In letzter Zeit verglich Friedrich Wieck seine Tochter immer öfter mit den ganz Großen der Konzertbühne. Es reichte ihm nicht mehr, sie unter den Wunderkindern einzureihen. Nach und nach fing er an, in Künstlern wie Mendelssohn, Liszt oder Chopin künftige Rivalen seines Clärchens zu sehen. Da sie nun vor Goethe auftreten würde, erinnerte sich Friedrich Wieck daran, dass der Dichter den jungen Mendelssohn sogar mit Mozart verglichen hatte. In seiner Begeisterung hatte er behauptet, Mendelssohns Spiel verhalte sich zu dem des jungen Mozart »wie die gebildete Konversation eines Erwachsenen zum Geschwätz eines Kindes«.
Clara durchschaute ihren Vater. Sie wusste, dass er es darauf anlegte, auch für sie ein paar einprägsame, zitierfähige Äußerungen herauszuschlagen, die sich gut in den Gazetten machen würden und auf den Plakaten, die für ihre Auftritte warben. Sie lächelte ein wenig über die Berechnungen ihres Vaters, doch sie wusste, dass er damit recht hatte. Der tägliche Kampf um Zuhörer und deren Anerkennung war zu einer Konstante ihres Lebens geworden. Das Wunderkind hatte längst gelernt, wie eine Erwachsene zu denken.
Friedrich Wieck überlegte jedes Detail. Der Dichterfürst habe trotz seiner dreiundachtzig Jahre immer noch ein offenes Auge für weibliche Reize, wurde erzählt. So würde Clara selbstverständlichihr schönstes Seidenkleid anziehen und dazu ihre hübschen weißen Ballerinenschuhe, die einen so zierlichen Kontrast zu den kräftigen Tritten bildeten, mit denen sie die Pedale malträtierte. Das glänzende schwarze Haar wurde frisch gewaschen, gebürstet und um die Wangen herum mit einem Heizstab in Locken gelegt. Sogar ein wenig Rouge tupfte Friedrich Wieck eigenhändig auf die weißen Wangen seiner Tochter und schärfte ihr ein, viel zu lächeln und dem hohen Herrn direkt in die Augen zu blicken. Wahrscheinlich erinnerte sich Friedrich Wieck daran, wie tief er selbst einst vom Blick ähnlicher schwarzer Augen ergriffen worden war.
Die Auswahl der Stücke, die Clara zum Besten geben sollte, bereitete Friedrich Wieck nur wenig Kopfzerbrechen. Ein etablierter Herr in den Achtzigern, Minister bei Hofe und damit wohl als hoch konservativ einzuschätzen, würde wahrscheinlich Variationen von Chopin oder eine Sonate von Beethoven als zu modern empfinden. Auch eine Mozart-Sonate konnte für die Mittagsstunde vielleicht zu fordernd sein. Nein, der berühmte Dichter sollte sich wohl fühlen, er sollte unterhalten werden und die Virtuosität des Kindes, das sich vor ihm produzierte, schätzen lernen. Also wieder einmal »La Violetta« von Herz. Wieder einmal die »Bravourvariationen opus 20« . Wieder einmal Triviales, virtuos präsentiert.
Ein elegantes kleines Privatkonzert in einem eleganten Rahmen. Die junge Clara Wieck aus Leipzig saß neben der sehr alten Exzellenz von Goethe auf dessen Sofa in Weimar. Die Schwiegertochter des Dichters gesellte sich dazu mit ihren beiden Kindern, die Friedrich Wieck in einem Brief an Clementine als »sehr geistreich aussehend« bezeichnete. Noch immer im seidenen Hausrock empfing der Geheimrat weitere Gäste, bis man Clara schließlich um Beispiele ihrer Kunst ersuchte. Dabei stellte sich heraus, dass der Stuhl vor dem Klavier für die kleine Pianistin zu niedrig war. Friedrich Wieck konnte sich vor Stolz kaum fassen, als der Dichter selbst aus dem Vorzimmer ein voluminöses Kissen herbeiholte und für Clara zurechtlegte. Das waren genau die Geschichten,die man später den Zeitungsleuten erzählen konnte und die die Bedeutung seines Clärchens hervorheben würden.
Clara erfüllte alle Anforderungen ihres Vaters. Sie
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