Das Maedchen am Klavier
Gelegenheit zum Vorspielen zu geben. Abendliche Hauskonzerte in betulichen Bürgerhäusern – ohne Honorar und als Reklame für den hoffentlich erfolgreichen Auftritt im großen Saal, der das Geld bringen würde, mit dem die Aktionen in der nächsten Stadt bezahlt wurden.
Es war wichtig, bekannt zu werden und immer bekannter. Ruhm nicht nur als Antrieb und Balsam für die Seele, sondern als Lockmittel, das sich selbst multiplizierte. Dazu brauchte man vor allem die Berichte der Presse, durch die immer mehr Menschen wussten, wer das war: das Wunderkind Clara Wieck aus Leipzig.
Friedrich Wieck und seine Tochter reisten nicht, sie hetzten dahin, von Stadt zu Stadt. Lernten keine wirklich kennen. Missachteten alle. »Mainz hat sechsundzwanzigtausend Einwohner und vierzehntausend Soldaten«, berichtete Friedrich Wieck seinem Tinchen zu Hause. »Es ist die hässlichste alte Stadt, die ich kenne. Diese winkeligen Gässchen und dieser Schmutz sind nicht zu beschreiben.«
Von Stadt zu Stadt. Von Poststation zu Poststation. Von Gasthof zu Gasthof. Zwölf Jahre war Clara alt. Wenn sie im festlichen Kerzenlicht ans Klavier trat, konnte man meinen, sie sei eine kleine Prinzessin und der Applaus ihr tägliches Brot. Bestaunt, bewundert, verehrt ... Aber ohne Freunde. Immer nur der Vater. Um Geld zu sparen, mietete er meist ein gemeinsames Zimmer. Er flickte ihre Kleider, polierte ihre Schuhe, wusch ihre Wäsche, flocht ihr Haar. Daheim in Leipzig hätte er das Leben eines wohlhabenden Instrumentenbauers, Kaufmannes und Institutsleiters führen können. Ein Gastgeber, den man schätzte, wenn auch nicht liebte. Jedenfalls aber ein angesehener Bürger.
Stattdessen fuhr er mit Clara durchs Land, putzte Klinken und schmeichelte, selbst wenn er das in Wahrheit verachtete. Er machte sich klein, weil er groß werden wollte. Ja, das war sein Antrieb für alles, was er auf sich nahm! Groß werden wollte er. Groß werden sollte Clara. Dabei zweifelte er keinen Augenblick daran, dass sich seine Träume erfüllen würden. Per aspera ad astra . Er wusste genau: Wer bekannt werden wollte, musste reisen. Reisen durch die vielen deutschen Städte, deren Gesellschaftsklassen nicht zueinanderfanden. Reisen bis dorthin, wo der Ruhm winkte: Paris. Die Stadt, die er sich kaum vorstellen konnte, wo jedoch Claras Stern aufglühen würde und wo manihr Genie endgültig erkennen und belohnen würde. PARIS – ein anderes Wort für Himmel und Erfüllung.
Hundertzwanzig Meilen, so rechneten sie gemeinsam während der Fahrt in der Kutsche aus, hundertzwanzig Meilen würden sie von Leipzig entfernt sein, wenn sie erst ihr Ziel erreicht hatten. In einem fremden Land würden sie sich dann befinden, mit einer Sprache, die sie beide nicht beherrschten. Clara war noch zu jung, um sich Sorgen zu machen, doch auch Friedrich Wieck war voller Zuversicht und Vorfreude. »Wir werden in Paris nicht allein sein«, erzählte er einer mitreisenden Dame, die zu jedem Wort nur nickte, weil es sie alle Kraft kostete, die Mahlzeit von der letzten Poststation bei sich zu behalten.
Nicht allein – das bedeutete vor allem, dass sie sich auf einen Mann verlassen konnten, dem sie zwar noch nie begegnet waren, der sich aber bereiterklärt hatte, ihnen behilflich zu sein: Eduard Fechner, Clementines älterer Bruder, der vor Jahren seine biederen Eltern und das trauliche Sachsen verlassen hatte, um sich in Paris ein Renommé als Porträtist aufzubauen. Seine Familie hatte ihn zuerst verstoßen, zumal er auch noch eine Französin zur Frau nahm. Dann aber erfuhr man, dass der verlorene Sohn in Paris großes Ansehen erworben hatte. Das aufstrebende Bürgertum der Stadt gierte danach, sich porträtieren zu lassen – sich selbst und auch die Vorfahren, die man bisher wohlweislich unter Verschluss gehalten hatte. Nachträglich avancierte nun der einstige – inzwischen verstorbene – Gastwirt zum Gutsbesitzer und wurde als solcher von Eduard Fechner vor seinen Ländereien verewigt. Die erschöpfte Mutter von vierzehn nicht unbedingt wohlgeratenen Kindern wurde zur eleganten Dame der Gesellschaft stilisiert, um deren gebauschte Seidenröcke sich eine wohlerzogene, gepflegte Kinderschar malerisch versammelte.
Eduard Fechner ging auf alle Wünsche ein. Seine Bilder in goldbraunen Tönen kritisierten nicht. Nicht der Wahrheit waren sie verpflichtet, sondern der Sehnsucht der Dargestellten, etwas Besseres zu sein. Eduard Fechner hatte ein Auge für die guten Eigenschaftenseiner Modelle.
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