Das Maedchen am Klavier
unausweichliche Ende. Schnell schaute man weg, wenn ein Leichenwagen vorbeifuhr. Man zog noch einmal die Narrenkleider über und tummelte sich auf den Boulevards, beschienen von einer lieblichen Sonne, die dabei half, zu vergessen, dass man sich selbst betrog. Laute Musik überall und überall auch der Chahut , ein Tanz der Begierde, ohne Scheu und ohne Scham. Trotz aller Warnungen trank man süße Säfte, mit Eis gekühlt, und ließ sich mit Fremden ein. Das grelle Leben zeigte dem matten Tod die lange Nase.
Auch am Abend ging man nicht nach Hause. Die Straßen waren voll von übermütigen Menschen, die wie im Rausch dahintorkelten, als gelte es, noch ein letztes Mal aus dem Kelch des Lebens zu trinken. In den Wirtshäusern sang und tanzte das betrunkene Volk, und auf den Redouten amüsierten sich die Karnevalisten, das verzerrte Gesicht hinter grellen Masken verborgen.
Für Clara gab es an diesem Abend keine einzige Einladung. Wer hätte in all dem Lärm und auf der Jagd nach dem Vergessen einem kleinen Mädchen zuhören wollen, das konzentriert und wohlerzogen am Klavier saß und ein kontrolliertes Temperament demonstrierte, das in den schrillen Ausbrüchen der Todesleugnung untergehen musste?
Während ein warmer Frühlingswind durch die Straßen wehte, speicherten die dicken Mauern des »Hôtel de Bergère« noch immer die Winterkälte. Friedrich Wieck und Clara froren und sie hatten Hunger. Sie bestellten zu essen, doch der Portier teilte ihnen mit, das gesamte Küchenpersonal habe bereits vor Stunden das Hotel verlassen und werde wohl auch nicht mehr zurückkehren. »Ich weiß nicht, ob wir den Hotelbetrieb aufrechterhalten können«, fügte er gleichmütig hinzu. »Es geht das Gerücht, dassimmer mehr Menschen an der Cholera sterben. Die Behörden vertuschen es, aber das Volk ist nicht blöde. Wer Verwandte auf dem Lande hat, setzt sich ab. Auch die Reichen verschwinden auf ihre Güter. Am Ende werden nur noch die Ärmsten zurückbleiben und die Rothschilds, denn die haben vor gar nichts Angst.«
Friedrich Wieck hatte nur die Hälfte verstanden. Zum ersten Mal in seinem Leben wusste er nicht, was er tun sollte. Während der vergangenen Tage hatte er seine ganze Hoffnung auf das Konzert im Hôtel de Ville gesetzt. Sollten all seine Mühen und sein finanzieller Einsatz umsonst gewesen sein? Oben im Hotelzimmer stapelten sich die großformatigen Plakate, die er auf eigene Kosten in Auftrag gegeben hatte, weil ihm die Ankündigungen der Konzertverwaltung zu bescheiden und unauffällig erschienen waren. Längst hätten die Plakate abgeholt und in der Stadt ausgehängt werden müssen. Bisher war aber noch niemand erschienen, um diese Arbeit zu übernehmen. Er würde sich wohl selbst darum kümmern müssen. Gleich morgen früh würde er zum Hôtel de Ville gehen und die Verantwortlichen an ihre Pflichten erinnern.
Sie traten in den warmen Abend hinaus. In keinem der Gasthäuser war mehr ein Sitzplatz aufzutreiben. So kauften sie sich ein paar überbackene Käsebrote und aßen auf der Straße. Zu trinken wagten sie nicht. Die Angst vor der Krankheit hatte nun auch sie erfasst.
Vor dem Treppenaufgang zu einem Tanzsaal blieben sie stehen. Die Musik scholl bis auf die Straße heraus. Gesang und Gelächter überall. Sogar auf den Stufen wurde getanzt. Clara fiel ein bunter Harlekin auf, der auf sie zu taumelte und dabei die Arme ausbreitete, als wolle er Clara umarmen. Erst lächelte sie noch, doch dann erschrak sie. Was da auf sie zukam, machte ihr Angst. Trotzdem blieb sie wie angewurzelt stehen. Hilfesuchend blickte sie zu ihrem Vater auf, doch der schaute in die entgegengesetzte Richtung und hatte den Harlekin nicht bemerkt. Der Maskierte torkelte immer näher. Clara kam es vor, als wolle er sich auf sie werfen. Sie versuchte auszuweichen, da stürzte erplötzlich zu Boden, so nah schon, dass sein Kopf Claras Schuhe berührte.
Clara schrie auf und sprang zurück. Auch die Menschen um sie herum erschraken. Einige lachten immer noch. »Ist doch nur ein Betrunkener!«, rief einer.
Der Harlekin rührte sich nicht mehr. Jemand drehte ihn auf den Rücken und zog ihm die Maske vom Gesicht. Ein Aufschrei, dann betroffenes Schweigen. Alle sahen es: Das Gesicht da über dem bunten Kostüm war blauviolett!
»Ein Scherz!«, rief der, der den Harlekin für einen harmlosen Betrunkenen gehalten hatte. »Das ist doch nur Schminke!«
Die anderen aber stoben auseinander. »Die Cholera!«, schrien sie entsetzt. »Voilà le
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