Das Maedchen am Klavier
kopfschüttelnd nach. »Schwarzseher!«, brummte er ärgerlich. »Komm, Clara! Üben!«Das angenehme Wetter lockte sie nach draußen. Nach den frostigen Wintermonaten nahmen sie die Gewohnheit ihrer stundenlangen Spaziergänge wieder auf. Im Eiltempo durchstreiften sie die Straßen und Parks und liefen an der Seine entlang, wo die Trödlerinnen ihre Waren feilboten. Eine ganz neue Stadt erschloss sich ihnen: nicht mehr nur das Paris der Lichter und der eleganten Salons mit ihren ehrgeizigen, lebenshungrigen Gästen, sondern auch die Stadt der unzähligen Armen. Sie sahen den Schmutz überall und rochen den allgegenwärtigen Gestank des Abfalls. Immer wieder begegneten sie aber auch Leichenwagen, auf denen gestapelte Särge zum Kirchhof geschafft wurden, oder Leichen, die nur in verschlissene Tücher gewickelt waren. Die Cholera war wohl doch nicht zum Schweigen bereit.
Noch immer berichteten die Zeitungen nichts von dem, was längst in aller Munde war. Wenn Gabrielle am Nachmittag zum Sprachunterricht erschien, sprudelte sie über von den neuesten Nachrichten. Obwohl die Behörden die Seuche offiziell totschwiegen, hatten sie längst eine Kommission zu deren Bekämpfung eingerichtet. Die erste Maßnahme war, dass der Schmutz auf den Straßen von nun an täglich auf Karren verladen und aufs freie Land vor der Stadt transportiert werden sollte.
Clara erinnerte sich, dass sie bei ihren Spaziergängen immer wieder armselige Schmutzgestalten gesehen hatte, die große Spitzkörbe auf dem Rücken schleppten und mit einem Hakenstock in den Kotwinkeln zwischen den Häusern herumstocherten. Was ihnen bei ihrer Suche brauchbar erschien, warfen sie über die Schulter in ihren Korb und verschacherten es an die Trödelweiber am Seineufer. Die öffentlichen Abfälle waren ihre Lebensgrundlage.
Kein Wunder, dass sie sich durch die neuen Verordnungen bedroht fühlten. Ein althergebrachtes Recht wurde ihnen plötzlich entzogen. So rotteten sie sich zusammen und zerschlugen voller Wut die funkelnagelneuen Reinigungskarren. Gemeinsam mit den Trödlerinnen von den Kais warfen sie die Trümmer in die Seine und bejubelten den großen Sieg ihrer kleinen Revolution.
Eine neue Stimmung machte sich breit in der Stadt der Lichter. Neu und doch so vertraut. »Die Revolte liegt den Franzosen im Blut«, murmelte Friedrich Wieck, als er mit Clara zusah, wie eine Meute aufgebrachter Menschen einen gut gekleideten Mann verfolgte, der ununterbrochen schrie, er sei unschuldig. Clara fragte nach und erfuhr, dass sich inzwischen das Gerücht verbreitet hatte, es gebe gar keine Seuche in Paris. In Wahrheit seien die Toten, die durch die Stadt gekarrt wurden, Opfer von Giftanschlägen der Karlisten, Anhänger des früheren, vertriebenen Königs.
Da genügte es, dass einer schrie, hier sei ein Giftmischer. Ohne Zögern stürzte man sich auf ihn, warf ihn zu Boden und wühlte in seinen Taschen. Tatsächlich fand man in einer Papiertüte ein weißes Pulver. »Es ist Kampfer gegen die Cholera!«, brüllte der Bedrängte in seiner Todesangst. Doch sein Flehen wurde übertönt durch den alten Schreckensruf des schweigenden Verstands: »À la lanterne! À la lanterne!« Nie war man sich einiger als unter diesem Vorzeichen.
Das Gebrüll der Menge und die Schmerzensschreie des Opfers stürzten auf Clara ein, dass sie auf einmal gar nichts mehr hörte. Eine stählerne Stille umgab sie und gab ihr die Kraft, sich aufrecht zu halten. Auch Friedrich Wieck war wie erstarrt. Er hätte Clara gerne von hier fortgebracht, doch ihm fehlte der Wille, sich auch nur zu bewegen. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis sie wieder zu sich selbst fanden. Dann vernahmen sie erneut den Lärm der Meute, die sich entfernte. Die Schreie des Opfers hatten aufgehört.
Clara drängte sich ganz nah an ihren Vater. »Wann fahren wir nach Hause, Papa?«, flüsterte sie. Ganz leise, doch er verstand es trotzdem. Dann fing sie an zu weinen.
Unbehelligt wandten sie sich ab von diesem Ort des Grauens und gingen langsam ins Hotel zurück. Während des ganzen, schier endlosen Weges barg Clara ihr Gesicht am Arm ihres Vaters.Die Fastenzeit war zur Hälfte vorüber. Das Volk von Paris feierte das Fest des Demi-carême , an dem sich der tot geglaubte Karneval ein letztes Mal aufraffte, um danach seine närrische Herrschaft für diesmal endgültig aufzugeben. Demi-carême – ein wildes, trotziges Fest als Nachklang des »carne vale« , ein Verleugnen der Sterblichkeit, ein Aufbäumen gegen das
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