Das Maedchen am Klavier
Augen zufielen, im breitesten Sächsisch, das sie je von ihm gehört hatte: »Läbzsch ...«
Teil Zwei
Ein junges Genie
Caprices
1
Wieder einmal hatte Clementine Wieck Grund, sich über die Alleingänge ihres Gatten zu ärgern. Da er mit Clara gerade noch der Pariser Choleraepidemie entronnen war, hatte Clementine gehofft, er werde sein Leben nun etwas ruhiger gestalten und endlich das fürsorglich-souveräne Familienoberhaupt werden, das sie sich immer gewünscht hatte: ein Spiegelbild ihres eigenen Vaters, der ihr von Kindheit an als Ideal erschienen war. Kein Mann, dem sie je begegnete, konnte ihm das Wasser reichen, und Friedrich Wieck bisher am allerwenigsten.
Alle Hausgenossen standen bereit, als Friedrich Wieck und Clara von ihrer langen Reise zurückkehrten: ganz vorne Clementine selbst, dahinter Alwin und Gustav, dann die beiden Klavierlehrer aus dem Logier’schen Institut, der Verkäufer aus dem Musikalienladen, das Hauspersonal und die Instrumentenbauer mit ihren zwei Lehrlingen. Über dem Eingangstor hing blumengeschmückt ein Schild mit der Aufschrift »Willkommen daheim!«, was allerdings nur schwer zu entziffern war, weil die Blütengirlande, die es krönen sollte, von Minute zu Minute mehr der Schwerkraft unterlag.
»Mein liebes Tinchen!«, rief Friedrich Wieck aufgekratzt, als er seine Frau erblickte. Er umarmte sie überschwänglich, aber kurz und eilte dann weiter zu seinen beiden Söhnen, die ihn entsetzt anstarrten, da ihnen eine derart pariserisch-weltmännische Herzlichkeit bei ihrem Vater fremd war.
Auch Clementine war peinlich berührt. Sie fürchtete um ihreAutorität bei den Dienstboten, wenn sie in ihrer Gegenwart mit Kosenamen angeredet wurde. »Pas devant les domestiques!«, pflegte ihre Mutter, die im Übrigen kein Französisch sprach, ihren Gatten zu ermahnen, wenn seine Stimmung in der Öffentlichkeit heiterer war, als es seiner Frau behagte. Clementine fiel ein, dass ihr Gatte nach seinen Pariser Wochen diesen zarten Hinweis bestimmt verstanden hätte, und sie beschloss, ihm seine Bildung zugutezuhalten und über seinen Fauxpas hinwegzusehen.
Mit einer ausladenden Handbewegung, die mehr einem Davonscheuchen glich, begrüßte Friedrich Wieck auch die übrigen Anwesenden und schickte sie an ihre Arbeitsplätze zurück. Dann eilte er ins Haus und fragte nach seiner Post. Wie immer schien er jeden Winkel des Hauses zu füllen.
Gehorsam folgten ihm alle, während Clara immer noch draußen stand – vor einem Zuhause, das ihr fremd war, mit einer fremden Mutter und Dienstboten, die sie kaum kannte. Wie schön wäre es jetzt gewesen, wäre Johanna Strobel hier gestanden und nicht irgendeine Köchin Berta von Clementines Gnaden! Ganz sicher hätte sie nicht viel geredet, aber sie hätte sie wenigstens Clärchen genannt und sie in ihrer schroffen Art, die Clara zu nehmen wusste, aufmunternd in die Seite gepufft.
Die Girlande über dem Willkommensschild hatte inzwischen ihren Halt endgültig verloren und glitt langsam, fast feierlich auf die Stufen nieder. Clara las die Inschrift, zuckte die Achseln und stieg dann über den Blumenschmuck hinweg ins Haus. Willkommen daheim!, wiederholte sie in Gedanken und fragte sich, wie schon so oft, warum ihr Vater eigentlich noch einmal geheiratet hatte.
In der Diele herrschte Halbdunkel, nur durch die offene Salontür und das Treppenfenster drangen gebündelt die Sonnenstrahlen herein. Friedrich Wieck hatte sich noch nicht an das matte Licht gewöhnt und bemerkte nicht gleich, dass in der Mitte der Treppe eine junge Frau stand, ein Mädchen vom Lande, wie er aus ihrer einfachen Kleidung und ihrem runden roten Gesichtschloss. Irritiert stutzte er und wollte schon fragen, wer sie denn sei, da fiel ihm das weiße, in Spitzen gehüllte Bündel auf, das sie vorsichtig und stolz auf den Armen trug. Gleichzeitig griff Clementine nach seiner Hand. »Deine Tochter«, sagte sie mit vor Ergriffenheit zitternder Stimme. »Unsere kleine Marie.«
In diesem Augenblick fing das Kind, von dem nur die Nase aus den Spitzen hervorschaute, lauthals an zu schreien. Die Amme, denn das musste sie sein, setzte sich in Bewegung und stieg, ein wenig schwerfällig, die Treppe herab. Dann knickste sie unbeholfen und hielt Friedrich Wieck den Säugling zur Ansicht entgegen.
Friedrich Wieck errötete. Nicht einmal sich selbst wagte er einzugestehen, dass er während der letzten Wochen die Existenz dieses Kindes so gut wie vergessen hatte. »Ich bin sprachlos«, sagte er
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