Das Maedchen am Klavier
verkauften sie geweihte Rosenkränze gegen die Cholera. An den Kreuzungen boten Händler Leibbinden und Unterjacken aus Flanell an. Flanell sei das einzig wirksame Mittel gegen die Seuche, versicherten sie. Innerhalb weniger Minuten waren die Stände leer gekauft. Als am Abend der »Figaro« in einer Sonderausgabe über die Schreckenslage berichtete, bemerkte er mit der Ironie der Verzweiflung, seit wenigen Stunden hülle sich ganz Paris nun in Flanell. »Sogar Venus würde heutzutage einen Gürtel aus Flanell tragen.«
Als Clara ihrem Vater den Artikel übersetzte, schüttelte er den Kopf. Der Humor der Franzosen war wirklich nicht der seine. Außerdem war ihm im Augenblick nach gar keiner Art von Humor zumute.
Sie packten ihre Koffer und bezahlten die Rechnung. Der Portier erklärte, sie seien bereits die letzten Gäste. Er werde nun denEingang abschließen und zu seiner Familie gehen. »Nehmen Sie für den Weg zur Poststation unsere Gepäckkarre mit und lassen Sie sie dann einfach stehen«, empfahl er. »Wenn das Hotel leer ist, werden bald die Plünderer kommen. So war es auch schon beim Juliaufstand. Ich kenne meine Landsleute.« Damit schob er Friedrich Wieck die Karre hin und zog sich in seine Loge zurück. Kein Wort des Abschieds nach den vielen Wochen. Vielleicht lebte man morgen schon gar nicht mehr. Wozu da noch Dienstfertigkeit oder Sympathie vortäuschen? Gäste waren Herren, denen man Gehorsam schuldete. Gehorsam aber zollte ein freier Mann nur, wenn er damit Geld verdienen musste, um zu überleben. Für die aufmüpfigen Kinder der großen Revolution war es eine Frage der Selbstachtung und des Stolzes, sich nicht unnötig zu beugen.
Eine Stadt im Aufbruch. Die Reichen flohen, begleitet von ihren Ärzten und Apothekern, die es selbst auch vorzogen, in einem Landschloss zu überleben. Das Volk, für das es keinen Ausweg gab, murrte, wie es schon so oft gemurrt hatte. Manchmal erfolgreich, aber letzten Endes meistens doch vergeblich.
Als Friedrich Wieck und Clara endlich in ihre Postkutsche kletterten, wagten sie nicht einmal mehr aufzuatmen. Ein stundenlanger Kampf war es gewesen, bis sie sich endlich an eine der Postkutschen herangedrängt hatten, für die es längst keinen Fahrplan mehr gab. Wer Glück hatte, zwängte sich durch die wogende Menschenmenge und bestach den betrunkenen Kutscher so lange, bis er zufrieden war. Friedrich Wieck bezahlte für vier Personen, um zwei enge Plätze zu bekommen. Dann saßen sie einander gegenüber, erschöpft und durchgeschwitzt. Wie ihre Reisegefährten hielten sie sich ein Taschentuch vor Mund und Nase, um nicht doch noch die Krankheit einzuatmen.
Bald setzte sich die Kutsche in Bewegung. Durch die verlassenen Straßen holperte sie mühsam und überladen hinaus aufs freie Land, wo die Abendsonne lange Schatten warf. Niemand sprach. Erst jetzt begann man zu begreifen, dass man gerettet war. Es galt nur noch zu beten, dass man die Krankheit nicht bereits in sich trug.
Langsam brach die Dämmerung herein. Clara spürte, dass sie hungrig war, aber sie wagte nicht, etwas zu verlangen. Der kleine Russe wusste, dass man sich auf langen Reisen zu bescheiden hatte. In vier Tagen würden sie daheim sein. In Sicherheit. Clara dachte an Alwin und Gustav und an ihr eigenes Zimmer. Erst nach einer Weile fiel ihr ein, dass man dank Clementine inzwischen ja umgezogen war und dass Johanna Strobel nicht mehr da sein würde. Dafür aber ein Säugling. Eine Halbschwester, so wie es im fernen Berlin eine ganze Schar Halbgeschwister gab, mit denen man eine Mutter gemeinsam hatte, die man sich nicht mehr vorstellen konnte.
Vier Tage noch, dann waren sie daheim. Paris, die Stadt des Lichts und der Schatten, würde nur noch eine Erinnerung sein. Erst nach und nach würden die unzähligen Erfahrungen dieser Wochen ins Gedächtnis zurückkehren und dem eigenen Denken und Handeln für immer ihren Stempel aufdrücken. Clara Wieck aus Leipzig war nicht mehr die Gleiche wie vor dieser Reise. Irgendwann würde sie vielleicht bewerten können, was sie erlebt hatte. Jetzt aber, in der Kutsche, die sie nach Hause zurückbringen sollte, war sie nur erleichtert, dass es endlich vorbei war.
Sie lehnte sich zurück und blickte sich um. Erst jetzt bemerkte sie, dass ihr Vater sie beobachtete. Sie fühlte sich ertappt und errötete ein wenig.
Er aber lächelte sie an. »Bald sind wir daheim«, murmelte er, als hätte er ihre Gedanken gelesen. »In Leipzig« – und dann, während ihm die müden
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