Das Maedchen am Klavier
Choléra-morbus!«
Clara wagte nicht, sich zu rühren. Sie spürte noch immer den Druck auf ihrem Fuß, dort, wo der Tote auf sie gestürzt war. Der Tote? Ja, er war tot, daran bestand kein Zweifel. Gestorben in dem Moment, in dem er das Mädchen aus Deutschland berührte.
»Die Cholera!«, flüsterte Clara und blickte zu ihrem Vater hoch.
Am folgenden Tag wurde die Wahrheit offiziell bekannt gemacht. Allein am vergangenen Tag und in der darauffolgenden Nacht seien zweitausend Menschen der Cholera erlegen, berichtete der »Constitutionnel« . Man habe die Leichen sofort zum Père Lachaise transportiert und teilweise noch in den Narrenkleidern begraben. Wer noch lebte, wurde ins Hôtel-Dieu gebracht, das Zentralhospital. Zuletzt sei aber auch das nicht mehr möglich gewesen, weil die bisherigen Patienten in ihrer Angst vor der Seuche die Zugänge blockierten.
Es zeigte sich, dass Paris im Umgang mit Aufruhr und Unruhe geübt war. Von Mittag an patrouillierten Gendarmen mit blanken Säbeln durch die Straßen und hielten jeden an, der verdächtig erschien. Es gab für sie jedoch nicht allzu viel zu tun. Das Volk, das die Straße sonst so sehr liebte, mied sie nun. Wer nicht schnellstens die Stadt verließ, verbarrikadierte sich in dereigenen Wohnung und war nicht einmal mehr für Freunde zu sprechen.
Auch Gabrielle tauchte zur gewohnten Stunde nicht im Hotel auf. Clara wartete ungeduldig. Sie fürchtete, dass auch das junge Mädchen inzwischen der Krankheit erlegen sein könnte. »Wird Gabrielle denn sterben, Papa?«, fragte sie voller Sorge. »Was bedeutet es, dass sie nicht kommt?«
Friedrich Wieck zuckte die Achseln. »Es kann alles bedeuten, Clärchen«, murmelte er resigniert. »Vielleicht geht es ihr gut, und sie hat nur Angst, sich anzustecken. Vielleicht aber ...« Er sprach nicht weiter, sondern gebot Clara, ihren Umhang zu holen. Dann machten sie sich auf den Weg zum Hôtel de Ville .
Nach dem unerhörten Getöse des gestrigen Tages war es in der Stadt nun totenstill. Die Passanten bewegten sich ruhig und vorsichtig, als hätten sie Angst, das Gespenst der Krankheit aufzuwecken. Man hörte fast nur noch das Rollen der Kutschenräder und hin und wieder ein Pferdewiehern oder Hundegebell.
Als sie sich dem Hôtel de Ville näherten, vernahmen sie ein Geräusch, das sie anfangs nicht zu deuten wussten. Erst als sie auf den Platz einbogen, erkannten sie, dass es das Gemurmel Hunderter Menschen war, die sich vor dem Gebäude drängten.
Auf Geheiß ihres Vaters fragte Clara nach, was die alle denn hier wollten. Sie erfuhr, dass man sich um Pässe anstelle. Angeblich gebe es über hunderttausend Anträge. »Alles will weg von hier«, seufzte der Mann, den Clara angesprochen hatte.
Unter dem Protest der Wartenden drängte sich Friedrich Wieck nach vorn. »Ich will keinen Pass!«, versicherte er immer wieder besänftigend. »Ich will keinen Pass!« Er hatte endlich begriffen, dass das Konzert seines Wunderkindes nur noch eine Chimäre war.
Trotzdem wollte er die Lage klären. Es gelang ihm, mit Clara bis zum Konzertbüro vorzudringen. Als niemand auf sein Klopfen antwortete, öffnete er einfach die Tür. Am Fenster stand ein junger Mann. Friedrich Wieck begann in mühsamem Französisch, seinen Fall zu schildern. Doch der junge Mann drehtesich nicht einmal um. Friedrich Wieck meinte schon, er hätte ihn gar nicht gehört. Dann aber lachte der Mann plötzlich auf. »Ein Konzert?«, fragte er erbittert. »Sie sind tatsächlich wegen eines Konzerts hier?« Er spuckte auf den Boden. »Vergessen Sie es!«
Friedrich Wieck erkannte, dass jede weitere Bemühung vergeblich war. Er griff nach Claras Hand und zog sie zur Tür. Als sie schon auf den Korridor hinaustreten wollten, hörten sie noch einmal die Stimme des jungen Mannes. »Meine Frau ist heute Nacht gestorben und mein kleiner Sohn auch«, sagte er leise, als könne er es noch immer nicht glauben. »Gesund und tot. Es wird nie mehr Konzerte geben in Paris.«
Sie traten auf den Platz hinaus. Die Menge derer, die sich um Pässe bemühten, hatte sich inzwischen mehr als verdoppelt. Die Sonne schien, und ein warmer Wind streichelte die erhitzten Gesichter der Menschen. Friedrich Wieck fühlte sich müde und leer. Eine Hoffnung war gestorben. Der Mensch war wohl nicht auf der Welt, um glücklich zu sein.
Bedrückt machten sie sich auf den Weg zurück zum Hotel. Immer wieder begegneten ihnen schwarzgekleidete Männer, die sich als Priester ausgaben. Um teures Geld
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