Das Maedchen am Klavier
nicht völlig offen mit ihr spreche.
August merkte, dass er diesem Kind nicht gewachsen war. Zudem tat es ihm wohl, diesen Menschen schlechtzumachen, dem das Schicksal so viel in die Wiege gelegt hatte und der so wenig damit anzufangen wusste. »Den großen Herren spielen!«, fuhr August nicht ohne Bereitwilligkeit fort. »Hält wildfremde Menschen frei und macht Saufgelage mit gewissen Individuen« – eigentlich sagte er »Individien« – »die sich ›Sonnenjünglinge‹ schimpfen. ›Attische Nächte‹ nennen sie das, was sie da treiben. Unsereiner hat von so etwas ja keine Ahnung. Auf jeden Fall besaufen sie sich und liegen dann wild durcheinander herum. Sie starren in den Mond und sagen Gedichte auf. Angeblich flennen sie dabei sogar, die Herren Romantiker. Es muss widerlich sein. Ich verstehe nicht, dass ihn Madame Wieck nicht längst hinausgeworfen hat.«
Doch Madame Wieck war zu beschäftigt, um sich über die häufige Abwesenheit ihres Hausgastes Gedanken zu machen. Wie die kleine Marie war auch der schöne Clemens ein Schreikind, was Clementine nicht mehr so leicht verkraftete wie beim ersten Mal. Sogar seiner Amme zitterten manchmal die Hände, und sie konnte es kaum erwarten, dieses unruhige Haus wieder zu verlassen, dessen Herr nie anwesend war und dessen Hausdiener den Mieter anscheinend hasste wie den Teufel. Aber so waren sie, die Stadtleute. Viel Geld, aber keine eindeutige Ordnung wie daheim auf dem Bauernhof, wo jeder genau wusste, wo sein Platz war.
Auch Clara kümmerte sich nur noch wenig um Robert Schumann. Sie kam mit ihrer Arbeit gut voran und konnte es kaum erwarten, sie ihrem Vater zu präsentieren. Der erste Satz ihres Klavierkonzerts – Allegro maestoso , wie Friedrich Wieck vorgeschlagen hatte – erinnerte im Stil tatsächlich ein wenig an Chopin, was allerdings kein Nachteil sein würde. Chopin verkörpertewie nur wenige den Stil der Zeit, der das Gefühl der Zuhörer anrührte, weil sie sich darin wiederfanden.
Im Gegensatz zum Klavierpart klang die Orchestrierung noch recht schulmäßig. Jahrelang hatte Clara die starren Prinzipien der Kompositionslehre an der Schiefertafel geübt. Selbst im Schlaf hätte sie eine beliebige Zahl von Variationsmöglichkeiten aufschreiben können. Alles richtig und streng nach den Regeln. Was ihr noch fehlte, war das Gespür für den Zusammenklang. Manchmal vermisste sogar sie bei den melodieführenden Stimmen ein harmonisches Eigenleben, das mehr beinhaltete als nur die drei Grundtonarten und ihre nächsten Verwandten.
So viel hatte sie gelernt in ihrer Kindheit! Alles, was sie studiert hatte, stand in ihrem Kopf bereit, auch zum Vergleich mit dem eigenen Werk. Kaum ein Lehrer mochte mehr beanstanden als Friedrich Wieck. Kritik war selbstverständlich für Clara, nichts Lästiges, sondern etwas, das zur Arbeit gehörte. Auch Selbstkritik hatte sie längst gelernt. Immer wieder spielte sie ihren ersten Satz und horchte dabei in sich hinein, als wäre dies eine fremde Komposition, die erst begriffen werden musste. Dabei wurden ihr die Schwächen des eigenen Werks immer deutlicher bewusst. Ständig fügte sie Verbesserungen ein und war doch nie ganz zufrieden.
Wie gerne hätte sie sich mit ihrem Vater ausgetauscht! Von Tag zu Tag fehlte er ihr mehr. Wenn er auf Reisen war, kam es ihr vor, als wäre er aus ihrem Leben verschwunden – wie nun auch Robert Schumann, der während der beiden letzten Abende nicht ausgegangen war, wie sie sehr wohl bemerkt hatte. Ob er sich endlich beruhigt hatte? Womöglich war seine Hand inzwischen schon geheilt.
Mit einem Mal hatte sie Sehnsucht danach, mit ihm zu plaudern – so wie früher, als er ihr Märchen vorlas und ihr von Jean Paul vorschwärmte. Früher, als er an ihrer Seite durch die Wälder stolperte und sich widerwillig zu den Wieck’schen Atemübungen überreden ließ. Erst jetzt wurde ihr bewusst, wie glücklich sie damals gewesen war. Damals – so lange war das doch gar nichther. Und er war ja nicht wirklich fort. Noch immer lebte er hier im Hause. Clara konnte sich plötzlich vorstellen, wie unglücklich sie selbst wäre, hätte einer ihrer Finger seine Kraft verloren. Ein Pianist mit neun Fingern – so etwas gab es nicht und konnte es niemals geben. Kein Wunder, dass der Ärmste sich betrank und mit dem Schicksal haderte.
Er tat ihr auf einmal unendlich leid. Sie spürte ihn neben sich am Klavier, mit ihr gemeinsam vierhändig spielend, zehn Finger plus neun. Doch was bedeutete das schon,
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