Das Mädchen am Rio Paraíso
müssen.
Jetzt, da das Mädchen also auf dem Weg der Besserung war, musste irgendetwas passieren. Dass er sich zum Sklaven der Umstände machen ließ und noch länger in Porto Alegre blieb, kam nicht in Frage. Und nach Santa Margarida konnte er sie auf keinen Fall mitnehmen. Es nützte nichts: Er würde sie den Behörden übergeben müssen. Sollten die sich doch damit herumplagen, ihre Identität zu entschlüsseln und sie wieder nach Hause zu bringen. Er jedenfalls hatte mehr als seine Pflicht getan, indem er ihr das Leben gerettet hatte. Einmal nur würde er seine Abneigung gegen Amtsstuben, Polizeiwachen und jede Art von Obrigkeit überwinden müssen, und dann wäre er endlich wieder frei von dieser lästigen Art der Verantwortung.
Kaum hatte er diesen Entschluss gefasst, sattelte Raúl auch schon sein Pferd und machte sich auf den Weg. Das Zentrum der Stadt lag einen zwanzigminütigen Ritt von seinem Haus entfernt, demselben, in dem er viele Jahre mit seiner schrulligen Tante Guilhermina verbracht und die es ihm mangels eigenen Nachwuchses vererbt hatte. Es war ein hübsches kleines Anwesen, doch so nett er es hier auch fand, so würde er doch niemals wirklich heimisch werden in dieser Umgebung. Eine von prachtvollen Flamboyant-Bäumen gesäumte Pflasterstraße, gepflegte Häuser, rechtschaffene Bürger der gehobenen Gesellschaftsschicht, glückliche Familien – das war alles gut und schön. Aber nicht seine Welt.
Was ihn in regelmäßigen Abständen nach Porto Alegre lockte, der Hauptstadt der südlichsten Provinz Brasiliens, waren vorwiegend kaufmännische und juristische Angelegenheiten. Er wickelte mit seiner Bank Aktien- oder Devisengeschäfte ab, die den Direktor der einzigen Bank in Santa Margarida eindeutig überfordert hätten. Er musste sich gelegentlich mit seinem Anwalt treffen, den er mit der Verwaltung des Hauses sowie anderer Immobilien und Ländereien beauftragt hatte. Weiterhin musste er zahlreiche Dinge besorgen, die weder in der näheren noch in der weiteren Umgebung seiner
estância
zu finden waren, bestimmte Bücher etwa oder importierte Feinkostwaren. Diesmal musste er außerdem einen Juwelier aufsuchen, der seine Taschenuhr, ein Erbstück seines Vaters, reparierte. Unter den Dingen, die es in Santa Margarida nicht gab, gehörte ebenfalls anspruchsvolle Zerstreuung. Nicht dass er gehobene kulturelle Veranstaltungen auf dem Land besonders vermisste – aber wenn sie sich ihm darboten, genoss er sie. Er ging gern ins Theater und zu Konzerten oder sah sich Kunstausstellungen an.
Wenn Raúl in der Stadt war, besuchte er außerdem häufig vornehme Kaffeehäuser, in denen verschiedene fremdsprachige Zeitungen auslagen, und labte sich an Kaffees und Kuchen, wie man sie in dieser Qualität in Santa Margarida nicht bekam, jedenfalls nicht in öffentlichen Lokalen. Am liebsten aber hielt er sich an den Hafenkais auf. Der Sonnenuntergang über dem Rio Guaíba war unvergleichlich schön, und die Luft hatte einen leichten Meeresduft, obwohl Porto Alegre doch noch gute siebzig Meilen von der Atlantikküste entfernt war.
Wegen der zum Teil sehr steilen Hügel, über die Porto Alegre und seine Außenbezirke sich erstreckten, ritt Raúl in gemächlichem Tempo. Er wollte nicht verschwitzt im Zentrum ankommen und sich den Beamten in derangiertem Zustand präsentieren. Diese Kerle nahmen einen nun einmal ernster, wenn man nach Wohlstand aussah und in jeder Hinsicht kühl blieb. Als er vor dem Polizeipräsidium ankam, schwang er sich geschmeidig aus dem Sattel, nahm ein Taschentuch aus der Tasche und wischte damit den Staub von seinen Stiefeln. Schmutzige Schuhe, die Erfahrung hatte er einmal gemacht, waren etwas, worauf Beamte besonders empfindlich reagierten, ganz so, als sei es ein willentlich herbeigeführtes Zeichen der Missachtung ihrer Amtsgewalt. Gerade als Raúl wieder aufrecht stand und sein Taschentuch verstaute, hielt eine Kutsche neben ihm an. Der Kutscher hatte so abrupt gehalten, dass eine Staubwolke aufstob. Raúl betrachtete verärgert seine Stiefel, auf die sich nun eine neue, hauchfeine Schicht Schmutz legte.
»Was zum Teufel …«, setzte er an, doch da wurde er auch schon von dem Fahrgast der Kutsche unterbrochen.
»Raúl Almeida de Vasconcelos! Wie schön, dass Sie Porto Alegre mal wieder besuchen!«
»Oh, äh … sehr erfreut, Sie zu sehen, liebe Senhorita Josefina«, brachte Raúl in einem Ton hervor, der nicht sonderlich erfreut klang. In Gedanken war er noch bei seiner
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