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Das Mädchen am Rio Paraíso

Das Mädchen am Rio Paraíso

Titel: Das Mädchen am Rio Paraíso Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ana Veloso
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ihr Herz verkrampfte. Was hatte das zu bedeuten? Machte der Duft sie glücklich? Oder löste er eine traurige Empfindung aus, die noch nicht in ihr Bewusstsein vorgedrungen war? Fest stand, dass der Duft an etwas in ihrem Innersten rührte. Ebenso fest stand, dass ihr der Anblick, der sich ihr von dem schlichten Schiebefenster aus bot, nicht fremder hätte vorkommen können.
    Was waren das alles für merkwürdige Gewächse? Sträucher mit großen, fünfblättrigen roten Blüten; langgereckte Bäume mit flacher Krone, an deren Stämmen riesenhafte birnenförmige Früchte baumelten; Nadelhölzer, deren Äste sich in eigenartiger Geometrie über mehr als zehn Meter weit spannten? Außer dem Gras, das die Erde bedeckte, kannte sie keine dieser Pflanzen.
    Die junge Frau kam sich vor wie in einem wirren Traum, der nach dem Aufwachen einen schalen Nachgeschmack hinterließ. Kein Alptraum, kein schöner Traum – einfach nur eine Aneinanderreihung von Bildern, die man nicht zuordnen konnte, in denen sich keine tiefere Bedeutung ausmachen ließ und die ein befremdliches Gefühl auslösten, das man bei der morgendlichen Körperreinigung mitsamt dem Schlaf in den Augen wegwusch.
    Die junge Frau zog das Fenster wieder herunter und klappte die Innenläden gerade so weit zu, dass noch ein wenig Licht hereinkam. In den vergangenen Tagen hatte sie gelernt, dass die Sonne den kleinen Raum auf ein unerträgliches Maß aufheizen würde, wenn man sie nicht aussperrte. Dann zog sie sich die Kleidung an, die die Schwarze ihr auf der Kommode zurechtgelegt hatte. Waren das ihre eigenen Kleidungsstücke? Oder woher stammten sie? Wenn eine andere Frau mit einer ähnlichen Statur wie der ihren hier leben würde, hätte sie sie doch bestimmt einmal gesehen. Oder hatte man die Kleidung eigens für sie gekauft? Denkbar war es, denn die Leibwäsche war strahlend weiß und nirgends geflickt, und das Kleid war aus einem so steif gewebten Baumwollstoff, dass es nagelneu sein musste.
    Als sie angekleidet war, trat sie vor das Spiegelchen und griff nach der Bürste, die ihr die Schwarze vor einigen Tagen ohne Kommentar gereicht hatte. Gedankenverloren strich sie damit über ihr helles Haar, bis es glänzte und seidig über ihren Rücken herabfiel. Dann teilte sie ihr Haar in der Mitte, um es zu Zöpfen zu flechten. Erst als sie beim ersten Zopf unten angekommen war, wo er sich so weit verjüngte, dass er nun mit einem Band hätte verschlossen werden müssen, stutzte sie. Welcher Instinkt oder Reflex hatte ihr nun wieder diese Frisur eingegeben? Pflegte sie ihr Haar immer zu Zöpfen geflochten zu tragen?
    Sie löste den ersten Zopf wieder auf, was er ohne Band früher oder später auch von allein getan hätte. Sie schüttelte den Kopf, ganz kurz nur, denn schlagartig überfielen sie wieder die bösen Schmerzen und ein leichter Schwindel. Sie setzte sich auf die Bettkante, wartete, bis die Beschwerden abgeklungen waren, und verließ leise ihr Zimmer.
     
    Es war Raúl klar, dass er etwas unternehmen musste. Er hatte nie vorgehabt, sich so lange in Porto Alegre aufzuhalten. Aus Erfahrung wusste er, dass selbst der fähigste Verwalter nicht die Abwesenheit des Gutsbesitzers wettmachen konnte. Auf seiner
estância
bei Santa Margarida, fast zweihundert Meilen landeinwärts, würde es drunter und drüber gehen, wenn er zu lange fortblieb. Außerdem hatte er allmählich genug von der Stadt – er sehnte sich nach der Abgeschiedenheit seines Hofs, nach der endlosen Weite seiner Weiden, nach dem staubigen Duft von Heu und der von Tausenden von Rinderhufen aufgewühlten Erde.
    Wenn nur dieses Mädchen nicht wäre!
    Sie hatte erstaunliche Fortschritte gemacht, wenn Raúl den Schilderungen Teresas Glauben schenken durfte. Er selber hatte die Patientin kaum je zu Gesicht bekommen. So hatte Teresa mit stolzgeschwellter Brust berichtet, dass ihr selbstbereiteter Sud aus Nelken, Zitronenschalen und Hühnerkrallen dem Mädchen einen allerliebsten rosigen Teint verliehen und dass ihre Salbe aus zerstoßenen Umbú-Blättern, Rindertalg und Kakteenextrakt ganz wesentlich zur schnellen Heilung der Schürfwunden beigetragen habe. Raúl hatte die Wirkung von Teresas Medizin einst am eigenen Leibe beobachten können. Was ihren Tinkturen, Pomaden und Säften an nachweislicher Wirksamkeit fehlen mochte, das machten sie durch ihren ekelhaften Geschmack oder Geruch wett: Er war schon allein deshalb immer rasch genesen, um nicht länger diese scheußlichen Mittel einnehmen zu

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