Das Mädchen am Rio Paraíso
annehmen zu können. Dann überlegte sie es sich offenbar anders, rückte ihren neuen grünen Hut zurecht und sah Raúl mit blitzenden Augen an. »Das ist das allerneueste Pariser Modell. Ich bin froh, dass er Ihnen gefällt. Bei manchen Modellen, die aus der Alten Welt kommen, weiß man ja nicht so recht, ob sie auch wirklich gut aussehen, besonders wenn die jeweilige Mode sich hierzulande noch nicht durchgesetzt hat.«
»Ich bin sicher, dass Sie zu den Damen gehören, die das Potenzial haben, eine eigene Mode einzuführen, ganz gleich, was gerade in Paris en vogue ist.« Tatsächlich fand Raúl den Hut ganz und gar nicht schön. Er hatte einen enormen Durchmesser und war sehr flach. Er sah aus wie ein großer Teller – eine Platte, die mit opulenten, blumigen Gebilden überladen war. Dennoch glaubte er an das, was er Josefina gegenüber gerade behauptet hatte. Wahrscheinlich würden in Kürze zahlreiche Damen der Gesellschaft in Porto Alegre mit solchen Ungetümen herumlaufen.
»Sie Schmeichler! So, und nun lassen Sie uns aufhören, über mich zu reden – das tun ja schon alle Mauerblümchen der Stadt. Wie geht es Ihnen? Ach, was frage ich, man sieht Ihnen an, dass alles zum Besten steht. Wie lange bleiben Sie noch? Ich wünsche Ihnen zwar, dass Sie Ihre zweifellos ärgerlichen amtlichen Angelegenheiten schnell und reibungslos erledigen, aber wenn es zu Verzögerungen käme, wäre mir das gar nicht unrecht. Ja, sagen Sie es nicht, ich gestehe schon: Ich bin allzu selbstsüchtig.«
In diesem Stil plapperte Josefina noch eine geschlagene Stunde vor sich hin. Der Gegenstand ihrer Ausführungen war meist sie selber. Aber das störte Raúl nicht besonders. Er sprach ohnehin nicht gern über sich. So konnte er sich einfach zurücklehnen, sich von einer hellen, angenehmen Stimme berieseln lassen und sich bei den erzählten Belanglosigkeiten, die Josefinas Tagesablauf kennzeichneten, entspannen.
Als beide beschlossen aufzubrechen, zog bereits die Abenddämmerung herauf. Allein daran erkannte Raúl, dass das Polizeipräsidium geschlossen haben musste. Er schwang sich auf sein Pferd, winkte Josefina zum Abschied zu und ritt hinaus aus dem Stadtzentrum. An einer der normalen Wachen, die sicher noch geöffnet hatten, wollte er sein Anliegen gar nicht erst vortragen. Die dortigen Beamten waren für Unruhestifter, Diebe, Straßenmädchen und Trunkenbolde zuständig. Bei der Lösung seines Problems erwartete er sich von ihnen keine Hilfe.
Je näher er seinem Haus kam, desto mehr machte die gelöste Stimmung, in die das Treffen mit Josefina ihn versetzt hatte, einer gereizten Anspannung Platz. Teufel auch, jetzt konnte er erneut in die Stadt reiten und das Auffinden dieses Mädchens melden, das wahrscheinlich deutscher Herkunft, über das darüber hinaus aber so gut wie nichts bekannt war. Seine Rückkehr nach Santa Margarida würde sich damit weiter verzögern.
Es war dunkel, als er zu Hause ankam. Er übergab das Pferd dem Stallsklaven, dann betrat er durch den Hintereingang den Nutztrakt. Er streifte seine Stiefel ab, schlüpfte in ein Paar Hausschuhe und ging Richtung Küche. Er hatte einen mörderischen Durst nach all der Schokolade und den Likören, die Josefina ihm aufgezwungen hatte. Schon im Flur hörte er die Stimmen zweier Frauen. Eine davon gehörte unverkennbar Teresa, die fluchte. Es wunderte ihn überhaupt nicht, denn sie fand immer einen Anlass zum Fluchen. Vermutlich war ihr einfach nur etwas übergekocht. Die andere Stimme untermalte das Ganze mit einem weichen Singsang. War das das Mädchen? Hatte es seine Erinnerung wiedergefunden? Ah, dem Himmel sei Dank!
Doch als Raúl die Küche betrat, zunächst von den beiden Frauen unbemerkt, stellte er fest, dass sein Schützling nur eine Melodie summte. Sie hörte sofort damit auf, als sie ihn sah. Ohne aufzusehen, sagte Teresa: »Komm schon,
menina,
mach weiter, das war sehr hübsch.«
»Ja, das war es wirklich«, sagte Raúl.
Teresa ließ vor Schreck fast eine Rührschüssel fallen, als sie die Anwesenheit Raúls bemerkte, und das Mädchen trat unbewusst einen Schritt zurück. Es starrte Raúl an, als handele es sich bei ihm um einen Einbrecher.
»Einen schönen Empfang bereitet ihr zwei mir«, beschwerte er sich. Seine Laune war auf den Nullpunkt gesunken. Jetzt musste er sich schon in seinem eigenen Haus fühlen wie ein unerwünschter Eindringling.
»Haben Sie sich doch nicht so, Senhor Raúl«, beschwichtigte Teresa. »Die Kleine kann Sie ja nicht
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