Das Mädchen am Rio Paraíso
sollte versuchen, noch etwas Schlaf zu finden, denn der morgige Tag versprach erneut aufregend und anstrengend zu werden. Doch dann hörte er aus dem Nebenraum ein leises Rumpeln. Klara – er konnte nicht umhin, weiterhin diesen Namen mit ihr in Verbindung zu bringen – war anscheinend noch wach. Vielleicht hatte die spontane Wiedersehensfeier eben erst aufgehört? Die Schlafzimmer lagen im rückwärtigen Teil des Hauses. Wenn unten vor dem Haus noch ein paar Leute bei ihrem Fortgehen lärmten, würde man es hier kaum mitbekommen.
Raúl saß nun kerzengerade auf dem Bett und lauschte. Es war kein Laut zu hören. War Klara, möglicherweise angeheitert, mit einem Rumms aufs Bett gefallen und sofort eingeschlafen? Aber nein, da, ein leises Tapsen. Sie ging barfuß durch den Raum. Ob er die Gelegenheit nutzen und bei ihr anklopfen sollte, um sie zur Rede zu stellen? An Schlaf war ohnehin nicht mehr zu denken.
Auf Zehenspitzen schlich er durch seine Kammer, zog sich etwas über, öffnete lautlos die Tür, sah sich im Flur um und huschte dann zu ihrem Zimmer. Er klopfte zaghaft – schließlich wollte er nicht die anderen Bewohner dieses hellhörigen Hauses auf seine nächtlichen Umtriebe aufmerksam machen, auch wenn diese vollkommen keuscher Natur waren. Kaum eine Sekunde später öffnete Klara die Tür, als hätte sie die ganze Zeit mit nichts anderem als seinem Besuch gerechnet.
Ein Blick in sein Gesicht genügte ihr. Romantische Absichten hatten ihn gewiss nicht zu ihr geführt. Insgeheim hatte sie sich gewünscht, die wahrscheinlich letzte Nacht, die sie mit ihm unter einem Dach verbrachte, möge sie einander näherbringen. Der Genuss zahlreicher Obstbrände hatte ihr Verlangen noch mehr angefacht. Jetzt aber war sie erleichtert, dass zumindest er nüchtern und vernünftig schien.
Raúl schlängelte sich elegant durch den Türspalt, schloss die Tür dann leise und baute sich vor ihr auf. Er wirkte bedrohlich. Als er ihren Oberarm umfasste, entzog sie sich ihm mit einem Ruck und trat einen Schritt zurück. Was auch immer Raúl ihr vorwerfen wollte – von gewalttätigen Männern hatte sie ein für alle Mal den Hals voll.
Er kam direkt zur Sache. »Wie heißt du wirklich?«
»Was soll das? Klara natürlich. Klara Wagner.«
»Und warum nennt dich dann keiner so? Ich habe genau darauf geachtet, und Deutschkenntnisse hin oder her, ich habe nicht ein einziges Mal jemanden ›Klara‹ sagen hören.«
Klara begann leise zu kichern. Dann gluckste sie, bis sie sich vor stummem Lachen schüttelte.
»Was ist so komisch daran?«, brummte er.
Klara hatte die Hände vors Gesicht geschlagen. Ihr Körper bebte. Raúl war sich plötzlich gar nicht mehr sicher, ob sie lachte oder weinte. Bis sie ihn tränenüberströmt ansah.
»Du glaubst noch immer, ich bin eine Lügnerin und Mörderin«, stellte sie fest, bevor sie weiterschluchzte.
»Nun mach doch nicht so ein Theater. Beantworte mir bitte nur meine Frage.«
»Deine Frage ist … eine schlimme Beleidigung. Aber gut«, langsam bekam Klara sich wieder einigermaßen in den Griff, »ich erkläre es dir. Die Leute nennen mich ›Klärchen‹. Das ist die, äh«, ihr fiel nicht die Vokabel ein, und sie sah sich gezwungen, es zu umschreiben, »das ist die Form für ›kleine Klara‹. So wie ›Joaninha‹ es für ›Joana‹ ist, oder ›Ronaldinho‹ für ›Ronaldo‹. Oder Raúlzinho für … na ja. Klärchen für Klara. Alle nennen mich so. Ich selber mag lieber Klara. Aber einmal Klärchen, immer Klärchen.«
Raúl starrte Klara ein paar Sekunden lang an, entsetzt über sein eigenes Verhalten. Wie hatte er nur so schnell seinen Zweifeln die Oberhand lassen können? Es war eine so einfache, harmlose Erklärung. Er fühlte sich unglaublich schäbig.
»Es tut mir leid«, sagte er, während er auf sie zuging und sie in die Arme nahm. Sie legte ihren Kopf an seine Schulter und begann wieder zu weinen. Er strich zärtlich über ihr Haar, in einer Geste, die tröstlich hatte sein sollen, die aber ganz andere Gefühle in ihm auslöste. Und in ihr ebenfalls. Sie hob das Gesicht und sah ihn an. Er sah sie an. Wie von allein fanden ihre Lippen zueinander.
Ihr Kuss schmeckte salzig und dabei süßer als alles, was sie je gekostet hatten. Er war gierig und feucht und atemlos. Ihre Leiber pressten sich in derselben Leidenschaft aneinander, in der ihre Münder sich zu ihrem erotischen Spiel trafen. Sie hielten einander dabei fest umklammert, strichen mit den Händen über des
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