Das Mädchen am Rio Paraíso
dass er sie jetzt allein ließ, mit nichts als dem Nachhall seiner platten Feststellung: »Ich sollte jetzt besser gehen.« Warum sagte er ihr nichts Liebevolles, nichts Zärtliches? War es für ihn nicht mehr als die Befriedigung eines körperlichen Bedürfnisses gewesen? Und jetzt, da es gestillt war, wollte er sie hier zurücklassen wie einen benutzten … Putzlappen?
Genau das schien er vorzuhaben. Er löste sich schweigend aus ihrer Umarmung, zog sich eilig Hose und Hemd über und ging zur Tür.
Sie unterdrückte einen Schluchzer der Enttäuschung, warf sich aufs Bett und vergrub sich unter dem Laken. Sie hörte nicht mehr, wie er, kurz bevor sich die Tür hinter ihm schloss, flüsterte: »
Te amo,
Clara, Clarinha.«
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47
W ährend Klara und Raúl auf dem Weg zu den Gerhards waren, jeder von ihnen tief in Gedanken versunken, brodelte in São Leopoldo bereits die Gerüchteküche.
Klärchen sei auf der Flucht vor den Eindringlingen, die Hannes auf dem Gewissen hatten, in einen Fluss gestürzt und auf wundersame Weise von dem zufällig vorbeikommenden vornehmen Herrn gerettet worden, erzählte Antonia Anni. Anni schilderte ihrerseits Klemens die Geschichte, wobei sie zu berichten wusste, dass der gutaussehende Brasilianer wohl nicht ganz so zufällig des Weges gekommen war. Klemens machte sich seinen Reim darauf und ging mit seiner Version bei seinen Freunden hausieren, wonach Klärchen ein Techtelmechtel mit dem Schönling gehabt und ihn womöglich beauftragt hatte, Hannes aus dem Weg zu räumen. Die Freunde von Klemens, keiner von ihnen persönlich bekannt mit Klara, hatten bereits von anderer Seite gehört, dass diese Frau offenbar nicht ganz bei Verstand gewesen war, und hielten Klemens’ Darstellung für absolut stimmig.
Die Leute, die am Vorabend im Schankraum von Antonia und Konrad zugegen gewesen waren, als Klärchen selber berichtet hatte, was geschehen war, dichteten ebenfalls allerlei dazu. So war die Tatsache, dass Klärchen sich an den eigentlichen Tathergang angeblich nicht erinnern konnte, von einigen als Beweis dafür angesehen worden, dass sie selber Hand an ihren armen verkrüppelten Mann angelegt hatte. Marlies wiederum fand es äußerst romantisch, dass der Retter ein so umwerfender Mann war, und manch einer sah das genauso – wobei das gute Aussehen des Mannes ja durchaus suspekt schien. Ursula behauptete, es könne einfach kein Zufall gewesen sein, dass dieser schneidige Herr Raúl Klärchen gefunden hatte, doch ihren Neid auf das hübsche Paar behielt sie wohlweislich für sich. Der Höhner-Heinz schenkte Klaras Darstellung durchaus Glauben, er hatte sie schließlich als eine gute, ordentliche und geistig vollkommen normale Frau kennengelernt. Allerdings gab er in seinem Überschwang – er war einer der Redner, denen man am meisten Gehör schenkte, da er Klärchen ja schon so lange kannte – die Episode mit der Leberwurst zum Besten, die Klara auf dem Schiff ganz allein vertilgt hatte. Das war nun manchen Leuten Beweis genug, sie der Selbstsüchtigkeit zu bezichtigen, und man habe ja schon immer gewusst, dass das Klärchen sich für etwas Besseres hielt.
Der Pfarrer Zeller war es schließlich, der mit seiner Beobachtung auch den abenteuerlichsten Gerüchten einen Anstrich von Wahrheit gab. Frau Wagner, empörte er sich, hätte an ihrem ersten Tag nichts Besseres zu tun gehabt, als sich dem Trunk hinzugeben und sich feiern zu lassen, und das alles nicht nur innerhalb des Trauerjahres, sondern auch noch in Begleitung eines geheimnisvollen Mannes, der nicht den Anschein eines aufrichtigen Christenmenschen erweckte. Sie war nicht einmal auf die Idee gekommen, das Grab ihres Gatten zu besuchen, und das, meine lieben Bürger von São Leopoldo, sei unverzeihlich, unchristlich und praktisch ein Eingeständnis ihrer Schuld.
Noch bevor Klara ihre Tochter wieder in den Armen hielt, war sie im Dorf zur Verbrecherin abgestempelt worden.
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I ch lag im Schatten eines knorrigen Apfelbaumes. Durch seine Äste hindurch, die mit noch unreifen, winzigen Äpfelchen vollhingen, sah ich den Himmel. Er war blau. Es war warm. Schönwetterwolken zogen über mich hinweg, Bienen summten in der Baumkrone. Die Wiese, in der ich lag, war bestanden mit Klee, Wiesenschaumkraut und Löwenzahn. Einige Blüten des Löwenzahns waren bereits zu Pusteblumen geworden, und der Wind trug die feinen Härchen durch die Luft. Sie kitzelten mich in der Nase. Dann fiel ein Schatten auf mich, dauerhaft, nicht
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