Das Mädchen am Rio Paraíso
das nur eines bedeuten konnte: ein größeres Raubtier war in der Nähe. Obwohl ich schon so viel über sie gehört hatte, obwohl viele Männer sich brüsteten, schon reihenweise Jaguare und Pumas erlegt zu haben, hatte ich noch nie eine dieser Raubkatzen gesehen. Natürlich, sie wollten uns Menschen ebenso wenig begegnen wie wir ihnen.
Professor Breitner hatte mir in den langen Stunden, die wir nach der Amputation gemeinsam am Krankenbett gewacht hatten, den Unterschied zwischen einem Puma und einem Jaguar erklärt. Sein Fachgebiet war zwar die Botanik, aber auch bei der Beschreibung der Tiere machte er einen sehr kompetenten Eindruck. Der Puma sehe in etwa aus wie eine Hauskatze, nur dass er etwa einen Meter lang werde, den Schwanz nicht mit eingerechnet, behauptete der Professor. Er sei meist von gelblicher bis hellbrauner Färbung und niemals gepunktet. Für Menschen stelle er keine Gefahr dar, er jage kleinere Tiere – unter anderem, um dem Jaguar nicht ins Gehege zu kommen. Der nämlich sei deutlich größer und suche sich auch größere Beutetiere aus. Der Jaguar, so hatte ich gelernt, war gefleckt wie ein Leopard, konnte eine Länge von einem Meter fünfzig erreichen, wieder den Schwanz nicht mitgezählt, und war ein miserabler Kletterer, dafür aber ein guter Schwimmer. Auch er stellte keine Gefahr für den Menschen dar, es sei denn, man bedrohte ihn.
Diese Erläuterungen hatte ich beinahe noch wortwörtlich im Kopf, aber nun, in der Stunde der Wahrheit, nützten sie mir herzlich wenig. Mir war speiübel vor Angst. Ich verharrte reglos an dem glatten Stamm des
pau-ferro.
Das heißt, ein wenig bewegte ich mich doch, denn ich zog mir sacht das Laken über den Kopf, als könne ein dünnes Baumwolltuch den Prankenschlag dämpfen. Doch ganz blind zu sein erwies sich als noch schlimmer. Also lupfte ich ein paar Minuten später das Tuch und schaute mich um. Der Mond war beinahe voll, und sogar durch die dichten Baumkronen des Urwaldes drang ein wenig Licht. Und dann sah ich ihn.
Immerhin wusste ich, dass das, was da lauerte, ein Jaguar war, was meine Furcht keineswegs verringerte. Ich hatte keine Augen für seine Schönheit, für seine herrliche Zeichnung. Ich dachte immerzu an die Zahlen, die Professor Breitner mir genannt hatte, erkannte jedoch auch ohne dieses Wissen, dass dieses Geschöpf viel größer war als ich und mindestens doppelt so schwer. Es schien mir in Sachen Körperbau durchaus mit dem Tiger aus dem Wanderzoo mithalten zu können. Wenn es Hunger hatte, würde es darauf, dass man ihm Menschenscheu zuschrieb, wahrscheinlich keine Rücksicht nehmen.
Mein Verstand verabschiedete sich vollends. Ich war nur noch Angst und Instinkt, wie ein Tier. Doch während ein Tier an meiner Stelle vielleicht seine Krallen ausgefahren, das Gefieder gesträubt oder drohende Geräusche ausgestoßen hätte, begann ich zu singen. Es geschah ohne mein Dazutun. Aus tiefster Kehle schmetterte ich »Im Frühtau zu Berge«, und der Jaguar, der schon ganz in der Nähe gewesen war, machte einen Satz ins Unterholz. Es war ein so unfassbarer Vorgang, dass ich eigentlich in wildes Gelächter hätte ausbrechen müssen. Aber nach Lachen war mir nicht zumute. Stattdessen sang ich weiter. Ich hielt alle Schrecken des Dschungels von mir fern, indem ich »Der Mai ist gekommen« trällerte und »Alle Vöglein sind schon da«. Ich sang sämtliche Volkslieder, die mir spontan einfielen, so lange, bis ich heiser und total erschöpft war.
Mitten in »Mein Vater war ein Wandersmann« muss ich eingeschlafen sein.
[home]
46
R aúl erwachte von der Stille. Das laute Schmettern deutscher Lieder, das aus dem Schankraum zu ihm drang, hatte er irgendwann ausblenden können, doch die plötzliche und totale Abwesenheit jeglicher Feiergeräusche war bis in seine Träume gekrochen, hatte sich mit ihnen vermischt und sorgte bei Raúl nun für eine kurze Orientierungslosigkeit. Was war passiert? Wo befand er sich? Dann verscheuchte die Erinnerung an den gestrigen Tag den letzten Nebel der geträumten und nicht minder realistischen Ereignisse. Er war in São Leopoldo, in einer primitiven Herberge, die Freunden von Klara gehörte. Klara lag nebenan. Aber Klara hieß gar nicht Klara.
Auf einmal war er hellwach. Er schob die Beine unter dem Laken hervor, stellte einen Fuß auf die Bodendielen. Es dauerte einen Moment, bis er sich dazu aufraffen konnte, sich auf die Bettkante zu setzen. Warum sollte er aufstehen? Es musste mitten in der Nacht sein. Er
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