Das Mädchen am Rio Paraíso
des späten Nachmittags einen Sonnenbrand bekommen und zahlreiche Insektenstiche. Wenn ihr irgendetwas zustieß, nur weil Hannes sie in seinem gnadenlosen Willen, mich zu bestrafen, zum Köder machte, dann würde ich ihn umbringen. Dann würde mich nichts mehr davon abhalten, ihm alles zurückzuzahlen, was er mir angetan hatte. Meine Lust auf Rache schien mir in diesem Moment größer, unbezwingbarer als jede andere Gefühlsregung, die ich je erlebt hatte.
Sie war es nicht, wie ich mir später selber eingestand. Mein Überlebenswille war noch stärker. Die Dunkelheit brach herein, und Hilde lag immer noch draußen. Aber Hannes hatte ein dünnes Laken schützend über sie gelegt, immerhin. Ich hockte nach wie vor zwischen den Wurzelsträngen des Baums und beobachtete das Geschehen. In meinem ganzen Leben hatte ich noch nie so reglos an einer Stelle ausgeharrt. Ich fürchtete, dass, wenn ich aufzustehen versuchte, meine Muskeln sich verkürzt hätten und dass mein Fleisch taub geworden wäre. Dann sah ich auf einmal Hannes, der den Ochsen vor den Karren spannte und wenig später abfuhr. Seine Tochter ließ er im Freien liegen.
Kaum war der Karren außer Sichtweite, stand ich auf. Es war so ähnlich, wie ich vermutete hatte. Mir wurde kurz schwarz vor Augen, weil alles Blut in meine Beine strömte. Es kribbelte und knackste und schmerzte überall, aber ich ließ mir keine Zeit, mich zu dehnen. Steif und ungelenk lief ich zu Hildchen hinüber.
Sie schlief selig.
Ich hob sie behutsam auf, untersuchte ihre zarte Haut nach Stichen oder Bissen, entdeckte jedoch nichts. Dann brachte ich sie ins Haus. Sie war aufgewacht und krähte nun, ob vor Vergnügen, weil ich sie herumtrug, oder vor Hunger, konnte ich nicht so genau bestimmen. Sicherheitshalber gab ich ihr ein zerdrücktes, gekochtes Stück des Manioks vom Vortag, dann noch eine
banana.
Sie mampfte fröhlich vor sich hin. Ich betrachtete sie verliebt. Was für ein anspruchsloses, freundliches Kind sie war. Und was für ein hübsches! Trotz ihrer großen Ähnlichkeit mit Hannes hatte ich bei ihrem Anblick keinerlei Beklemmungen, im Gegenteil: Ich liebte alles an ihr, bedingungslos.
Einen Moment lang erlaubte ich mir, mich Phantastereien hinzugeben. Ich malte mir aus, wie sie später aussehen, was sie für gute Schulnoten mit nach Hause bringen und was sie als Backfisch für Eigenarten entwickeln würde. Ich hoffte für sie, dass sie nur das Aussehen von Hannes geerbt hatte und nicht seinen schäbigen Charakter. Wobei ich ebenfalls hoffte, dass sie bestimmte Dinge seines Äußeren nicht haben würde, wie zum Beispiel die vielen Leberflecke. Ein paar davon waren ganz hübsch, aber wenn man damit übersät war, litt die Schönheit doch ein wenig darunter. Außerdem hatten sich bei Hannes zwei davon entzündet. Sie nässten und wurden immer größer. Aber nein, das würde Hildchen nicht passieren – bestimmt waren diese scheußlichen Male eine Strafe des Himmels. Wenn mir schon sonst niemand auf der Welt glaubte, geschweige denn half, so konnte ich mich wenigstens mit dem Gedanken trösten, dass der Herrgott alles sah, dass Er um meine Unschuld wusste.
Gerade hatte ich Hilde in ihr Bettchen gepackt, da hörte ich das unverwechselbare Klacken der Holzkrücken. Ich hätte es wissen sollen. Hannes hatte wahrscheinlich den Karren an der nächsten Biegung stehengelassen und war zurückgehumpelt, um mir nun endlich die Strafe angedeihen zu lassen, die ich seiner Meinung nach verdiente. Aber diesmal reagierte ich schneller. Geistesgegenwärtig schnappte ich mir ein Laken, öffnete das Fenster und flüchtete hinaus in die Dunkelheit.
Ich entfernte mich nicht sehr weit vom Haus, dennoch hatte ich das Gefühl, ich befände mich weitab jeglicher menschlicher Zivilisation. Die Geräusche des Urwaldes, die ich doch längst kannte und einordnen konnte, waren sehr viel gespenstischer, wenn man sie nicht im Schutz eines Hauses vernahm, sondern inmitten der Wildnis. Aus unserem Haus hörte ich gar nichts mehr. Ich hoffte, dass Hannes das Kind in Frieden schlafen lassen und sich selbst besinnungslos betrinken würde. Wenn er sich nicht mehr aufrecht halten konnte, stellte er noch die geringste Gefahr für sich und andere dar.
Nach einer Weile verstummten alle Geräusche um mich herum. Mir liefen heiß-kalte Schauer über den Rücken. Dann zerriss der Schrei eines Brüllaffen die Stille, und da diese Tiere normalerweise nur tagsüber ihre schrillen Rufe ausstießen, war mir klar, dass
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