Das Mädchen am Rio Paraíso
durchquert, nämlich vor drei Monaten. Damals hatte er sich weder für die deutschen Siedler interessiert noch für die Umgebung. Er hatte eine vermeintliche Abkürzung durch den Wald genommen und sich geärgert, dass die Strecke zwar deutlich kürzer, dafür jedoch viel unwegsamer gewesen war. Dann hatte er Klara gefunden, reglos am Ufer des Rio Paraíso liegend, und war, nunmehr erst recht ohne den Fortschritten der Kolonisten irgendeine Beachtung zu schenken, nach Porto Alegre geritten. Diese Straße, auf der sie jetzt fuhren, hatte seinerzeit unter Wasser gestanden und war unpassierbar gewesen, er hatte sich daher für einen anderen Weg entschieden. Umso mehr überraschte ihn nun, wie emsig die Siedler gewesen waren. Und wie wenig brasilianisch es hier aussah. Er war in einer anderen Welt gelandet.
Bereits in São Leopoldo hatte er dieses Gefühl gehabt, doch da war der Einfluss der deutschen Kultur nicht so alles beherrschend wie hier. Dank der alten Faktorei in ihrer portugiesischen Bauweise sowie dank vereinzelter portugiesischer Sprachfetzen, die man von den Fährleuten oder Händlern aufschnappte, wusste man dort wenigstens noch, in welchem Land man war. Hier jedoch erinnerte außer der Landschaft, die ja auch schon zunehmend gezähmt wurde, gar nichts mehr an Brasilien. Die Fachwerkhäuser waren typisch europäisch, und die Beete und Vorgärten, in denen die Leute das Gemüse für ihren persönlichen Bedarf anbauten, waren in dieser Form in Brasilien unüblich. Sogar die Wäsche, die an den Leinen flatterte, war fremdartig.
Er ließ das alles auf sich wirken und dachte dabei an den Vortrag, den der Journalist Alves da Costa ihm gehalten hatte, als er in der Redaktion des »Jornal da Tarde« nach näheren Informationen gesucht hatte. Raúl kam zu dem Schluss, dass der Mann ein wenig übertrieben haben musste. Den Leuten hier ging es doch offensichtlich nicht schlecht. Auch dass sie in einer grenznahen Region angesiedelt worden waren, hatte sich bislang noch nicht negativ ausgewirkt – sie lebten hier so fernab jeglicher politischer Unruhen, dass sie es wahrscheinlich nicht einmal mitbekämen, wenn an der Grenze zu Uruguay wieder die Hölle los wäre. Die Indianer schienen ebenfalls kein ernsthaftes Problem darzustellen. Bisher hatte er keine Klagen über ein schwieriges Zusammenleben gehört. Nun ja, zugegeben, er war auf das angewiesen, was Klara ihm erzählte, denn die anderen Kolonisten sprachen ja kein Portugiesisch. Und Klara war überaus zurückhaltend mit der Preisgabe von Einzelheiten, die ihr Leben hier im Dschungel betrafen.
Klara hing ähnlichen Gedanken nach. Sie hatte Raúl so wenig von ihren Lebensumständen mitgeteilt – zu welchem Urteil über sie würde er gelangt sein, wenn sie ihm alles berichtet hätte? Die Amputation des Beines, die zunehmende Verbitterung von Hannes, seine wachsende Gewalttätigkeit, die Trostlosigkeit ihres Daseins? Sie hatte befürchtet, dass er, genau wie ihre Nachbarn und Freunde, zu dem Schluss kommen würde, sie sei der Last dieser Sorgen nicht gewachsen gewesen und habe, vielleicht im Affekt, ihren Mann getötet. Sie selber wusste ja ebenfalls nicht genau, ob es sich nicht tatsächlich so zugetragen hatte. Und sie hatte ohne Zweifel Mordgelüste gehabt.
Und jetzt? Was würde er denken, wenn er ihr armseliges Häuschen sah? Klara wurde klamm ums Herz. Sie hatte nicht gewollt, dass er mitkam. Aber ohne ihn hatte sie diese schwierige Fahrt auch nicht machen wollen. Es würde für alle Beteiligten hart werden: erst ein Blick auf ihre Parzelle, den Schauplatz der Tragödie, die auf dem Weg zu Gerhards lag, dann der Besuch bei Christel und Franz, die sich zu Tode erschrecken und die vielleicht das Hildchen nicht so gern wieder hergeben würden. Klara hatte da so ihre Vermutungen. Christel konnte offenbar selber keine Kinder bekommen. Sie war von Hildchens Geburt an immer in der Nähe des Kindes gewesen und hatte sich förmlich aufgedrängt, sich um das Kind zu kümmern. Sie hatte Klaras Qualen nicht ernst genommen, ja sogar Hannes noch in seinen Verleumdungen unterstützt. Für Klara lag es auf der Hand, dass Christel sich insgeheim beglückwünschte, doch noch die ersehnte Mutterrolle ausfüllen zu dürfen.
Sie fuhren nun am Grundstück der Schmidtbauers vorbei. Klara senkte den Kopf. Sie wollte nicht, dass die Nachbarn sie sahen. Sie hatte keinerlei Verlangen, erneut all die Fragen zu beantworten, die man ihr gestern schon gestellt hatte. Sie hatte keine
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