Das Mädchen am Rio Paraíso
Lust auf die missgünstigen und skeptischen Blicke, mit denen die Leute Raúl musterten und sie selber bedachten, als wäre es sonnenklar, dass sie Ehebrecher waren. Gestern waren sie es noch nicht gewesen, und Klara hatte den gemeinen Blicken standhalten können. Wie es heute um ihren Widerstandsgeist bestellt war, wusste sie nicht. Streng genommen hatten sie nichts Verbotenes getan, denn weder sie noch Raúl waren verheiratet. Oder war man auch als Witwe an das Treuegelöbnis gebunden? Nein, bestimmt nicht.
Sie hatten Glück. Auf dem Hof der Schmidtbauers war kein Mensch zu sehen. Sicher waren sie auf den Maisfeldern, die weit entfernt von der Straße lagen. Klaras Nervosität wuchs dennoch. In vielleicht zehn Minuten würden sie ihre Parzelle erreichen. Was erwartete sie dort? Es war das herzhafte Gähnen Joaninhas, das Klara ein wenig von ihren Ängsten ablenkte. Natürlich, sagte sie sich, es war nichts weiter als eine langweilige Fahrt auf einer monotonen Straße, hin zu einem unbewohnten Hof. Was sollte schon groß passieren? Sie würden das Haus und die umliegenden Nutzflächen inspizieren, aber finden würden sie dort gewiss nichts. Was auch? Und wenn ihr kleiner Hof allzu verkommen aussah, würde sie dies vor Raúl damit rechtfertigen können, dass er ja nun schon so lange verlassen war. Es bestand kein Grund dazu, sich zu schämen oder zu fürchten.
»Halt! Hier links.« Beinahe hätte Klara selber die Einfahrt übersehen.
Raúl lenkte den Wagen in einen kleinen Stichweg, der von der Straße abging und der vollkommen überwuchert war. Das Gestrüpp war bereits so hoch, dass es sich in den Achsen ihres Wagens verhedderte. Dann bogen sie um eine Kurve, und da stand das Haus. Auf den ersten Blick wirkte es ganz normal, wie all die anderen Fachwerkhäuschen, an denen sie vorbeigekommen waren. Es strahlte eine freundliche Rechtschaffenheit aus. Raúl wusste nicht, was er erwartet hatte, aber dies hier bestimmt nicht. Das Haus konnte man sich kaum als Schauplatz ehelicher Dramen oder gar als den schwerer Verbrechen vorstellen.
Doch als sie vor dem Haus zum Stehen kamen, waren die Anzeichen des fortschreitenden Verfalls nicht mehr zu übersehen. Das, was einmal ein Vorgarten gewesen sein musste, war im Begriff, zum Dschungel zu werden. Der Hühnerstall war zusammengebrochen, und in dem Trog hatten sich Blätter und Wasser zu einem schleimig grünen Brei zersetzt. Auf der Wäscheleine flatterte noch ein grauer Fetzen Stoff, der nicht mehr als ein bestimmtes Wäschestück zu identifizieren war. Es lag allerlei Unrat herum, auch das eine oder andere Werkzeug erspähte er unter dem dichten Grün, das alles überzog. Diebe waren keine hier gewesen, die hätten eine brauchbare Schaufel sicher nicht dagelassen. Warum allerdings keine neuen Bewohner eingezogen waren, war Raúl schleierhaft. Es kamen ständig neue Siedler aus Europa, ein bereits gerodetes Grundstück mit einem festen Haus darauf würde wohl kaum einer von ihnen verschmähen.
Die Haustür war offen und wurde vom Wind bewegt, wobei sie knarzende Geräusche von sich gab.
»Das ist gruselig«, rutschte es Joaninha heraus.
»Hat dir Teresa nicht gesagt, du sollst nur den Mund aufmachen, wenn du etwas gefragt wirst?«, fuhr Raúl sie an. Es
war
gruselig, selbst bei ihm löste der Anblick ungute Gefühle aus. Aber der armen Klara war sicher nicht damit gedient, wenn man es auch noch so deutlich aussprach.
»Ich geh da nicht rein«, nörgelte Joaninha.
»Hat dich irgendjemand gefragt?« Raúl fand dieses Mädchen überaus lästig, aber er hatte sie nicht allein in São Leopoldo lassen wollen. Er sah sie kopfschüttelnd an. »Du darfst draußen bleiben. Ganz allein. Wache schieben.« Dann, als das Mädchen schon eine Leidensmiene zog und zu einer quengelnden Antwort ansetzte, befahl er: »Und jetzt kein Ton mehr!«
Er nahm Klara bei der Hand und stieß die Tür ganz auf. Ein Geruchsgemisch von Wald, Erde und Schimmel schlug ihnen entgegen. Die Holzdielen knacksten bedenklich, als sie sie betraten. Raúl sah sich aufmerksam um. An Phantasiemangel hatte er nie gelitten, aber hier fiel es ihm schwer, sich vorzustellen, wie es ausgesehen haben mochte, bevor die Natur ihre Verwüstungen angerichtet hatte.
Es gab keinen Flur oder Eingangsbereich – hinter der Haustür kam direkt ein Raum, der Küche, Ess- und Wohnzimmer in einem zu sein schien. Trotz seiner vielfältigen Funktionen war es ein kleiner Raum. Raúl konnte schwerlich glauben, dass man in so
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