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Das Mädchen am Rio Paraíso

Das Mädchen am Rio Paraíso

Titel: Das Mädchen am Rio Paraíso Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ana Veloso
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fest. Mit der anderen erhob er seinen Krückstock und fegte damit über das Bord. Unsere kostbarsten Habseligkeiten flogen durch den Raum. Meine Porzellanfigur zerbrach in tausend Teile, nur der Kopf blieb in einem Stück. Er kullerte unter die Brennholzscheite neben dem Herd. Die Bibel landete mit den geöffneten Seiten nach unten auf dem schmutzigen Boden. Der begonnene und niemals vollendete Brief an meine Schwester flatterte heraus und blieb auf der Asche vor dem Herd liegen, die ich seit Ewigkeiten nicht mehr aufgekehrt hatte. Unsere Fiedel zerbrach und erzeugte, als eine Saite riss, einen sonderbar gequälten Ton, der all meine Trauer und all mein Entsetzen zu beinhalten schien. Es kam mir vor wie der Klang der Totenglocke.
    Eine Ahnung, dass ich heute würde sterben müssen, kroch mir in die Glieder und lähmte mich. Ich stand Hannes gegenüber am Tisch und rührte mich nicht. Wie aus weiter Entfernung hörte ich Hildchen weinen. Sie lag in unserer Schlafkammer. Dort legte ich sie fast immer am späten Nachmittag aufs Bett, weil es der kühlste Platz im Haus war.
    »Ich bring dich um!«, brüllte Hannes.
    Als ob ich das nicht gewusst hätte.
    »Du verkommenes Miststück!«, tobte er und fügte dieser Beleidigung noch etliche andere hinzu. Sie trafen mich nicht sonderlich hart – ich hatte ja etwas in der Art vermutet, als ich ihm von meiner vorzeitig beendeten Schwangerschaft erzählte. Hannes glaubte allen Ernstes, dass Friedhelm der Vater des armen Würmchens gewesen war und dass ich selber der Schwangerschaft ein Ende gesetzt hätte. Ich machte mir nicht die Mühe, ihm zu erklären, dass ich, selbst wenn ich gewollt hätte, gar keine Gelegenheit gehabt hatte, etwas mit Friedhelm anzufangen; dass ich, wenn ich diese gehabt hätte, dem Verlangen noch immer nicht erlegen wäre, denn meinen geschundenen Körper hätte ich ihm gewiss nicht dargeboten; und dass nicht ich das Leben der armen ungeborenen Kreatur auf dem Gewissen hatte, sondern er, Hannes, allein die Schuld daran trug.
    Hannes war vollkommen außer sich. Er benutzte nun seinen Stock, um ihn quer über den Herd sausen zu lassen. Ein Topf, in dem ich kurz zuvor Bohnen zum Kochen aufgesetzt hatte, krachte herunter. Instinktiv wich ich der heißen Brühe aus, die sich in einem Schwall durch den halben Raum ergoss. Es musste diese ruckartige Bewegung gewesen sein, die meine Lebensgeister wieder weckte, denn auf einmal war meine duldsame Trägheit wie weggeblasen. Ich begann zu rennen.
    Ich lief so schnell ich konnte, und zwar in dem überklaren Bewusstsein, dass es diesmal wirklich um Leben und Tod ging. Ich würde nie wieder hierher zurückkehren. Ich würde Hildchen von der Polizei abholen lassen und unterdessen beten, dass er seine Wut nicht an ihr ausließ. Sie mir jetzt zu schnappen hätte, da war ich mir vollkommen sicher, mein Ende bedeutet, und davon hätte das Kind ja auch nichts gehabt. Ich musste das Wagnis eingehen, sie in Hannes’ Obhut zu lassen. Ich schalt mich für meine Zögerlichkeit – hätte ich sie bereits am Vortag zu Christel gebracht, so wie es mir sinnvoll erschienen war, da ich ja an meinem eigenen Charakter zu zweifeln begonnen hatte, wäre die Kleine jetzt außer Gefahr.
    Ich hätte gar nicht so schnell zu rennen brauchen, denn Hannes konnte mich nicht einholen. Dennoch versuchte er es. Er war offenbar so erregt, dass er vergessen hatte, wie es um ihn bestellt war. Auf einem Bein hatte er nicht die geringste Chance, mich zu erwischen. Aber er schrie mir hinterher und humpelte mir nach, und das in einer Geschwindigkeit, die ich kaum für möglich gehalten hätte. Er hatte sich seinen zweiten Stock genommen, so dass er schneller vorankam. Im Umgang damit war er im Laufe der Zeit sehr geschickt geworden, und dank seines kräftigen Oberkörpers sowie der muskulösen Arme machte er durch Kraft wett, was ihm an Beweglichkeit fehlte. Trotzdem war ich viel schneller als er.
    Ich flitzte über unser Grundstück wie ein Wiesel. Dann, an der Grenze zum Wald, drehte ich mich kurz um, weil ich sehen wollte, ob er mich noch immer verfolgte. Was ich indes sah, war ein Stein, der auf mich zuraste. Ich konnte ihm nicht mehr rechtzeitig ausweichen. Er traf mich an der Stirn, und für einen kurzen Moment sah ich Sterne und dachte, ich würde umkippen. Zum Glück geschah das nicht, dennoch taumelte ich kurz und verlor einen großen Teil meines Vorsprungs. Dieser Wahnsinnige – er würde mir so lange nachrennen, bis er mich hatte! Ich sah

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