Das Mädchen am Rio Paraíso
sein –, das aber sehr fröhlich klang und ansteckend wirkte. Mit Gesten gab ich ihr zu verstehen, dass sie das Tuch behalten durfte. Doch sie deutete meine Zeichensprache offensichtlich falsch, denn sie rannte aufgeregt davon. Das Laken allerdings behielt sie.
Ich schüttelte den Kopf, als würden dadurch meine wirren Gedanken und Eindrücke wieder ins rechte Lot gebracht werden. Hatte ich das alles nur geträumt? War ich wirklich im Begriff, den Verstand zu verlieren, so wie alle anderen es ja ohnehin schon glaubten? Was ich gerade erlebt hatte, und auch schon die Nacht, war so hanebüchen, dass es in Wirklichkeit nicht passiert sein konnte. Erst ein Jaguar, dann die Indianerin? Mich schauderte bei der Vorstellung, dass das alles vielleicht Einbildung gewesen war und ich tatsächlich unter einer Art geistiger Umnachtung litt. Aber nein – nein! Ich würde den durchtriebenen Lügen meines Mannes und der Leute, die ich für meine Freunde gehalten hatte, keinen Glauben schenken. Nicht ich. Ich wusste, was ich gesehen und erlebt hatte.
In Gedanken noch immer bei den Vorfällen der Nacht, schlenderte ich zu unserem Haus zurück. Erst auf den Stufen zur Haustür holte mich die Erinnerung an das, was sich vor meinen Abenteuern im Wald zugetragen hatte, ein. Aber es war schon zu spät. Bei dem Schlag mit dem Krückstock ging ich in die Knie, dann stürzte ich die Stufen hinunter und schaffte es nicht mehr, mich aufzurappeln und den Schlägen auszuweichen. Diesmal war ich davon überzeugt, dass Hannes mich umbringen würde. Doch in mir steckte offenbar mehr Leben, als er mir auszudreschen in der Lage war. Nachdem er von mir abgelassen hatte, anscheinend in dem Glauben, ich sei bewusstlos, blieb ich eine Weile reglos liegen. Ich wartete, dass er mit dem Karren davonfuhr. Und das tat er auch, kurze Zeit später. Dem blutigen Bündel Mensch, dem er vor dem Haus ausweichen musste, also mir, schenkte er keinerlei Beachtung. Das war beinahe noch grausamer als die Prügel selber: dass er nicht einmal mehr Scham empfand.
Ich quälte mich ins Haus, wusch vorsichtig das Blut ab, betupfte die Wunden mit Alkohol. Dabei ließ es sich nicht vermeiden, dass ich in den Spiegel sah. Was ich darin erblickte, war grässlich. Mein Gesicht war kaum noch als solches zu erkennen, so verquollen war es und so verunstaltet von Platzwunden, lila-grünen Flecken, Kratzern und Prellungen. Einer meiner Schneidezähne wackelte, ich betete, dass er mir nicht ausfiel.
Dann lenkte mich ein jäher Schmerz im Unterleib von der traurigen Begutachtung meines Gesichts ab. Ich musste mich bücken und die Hände auf den Bauch legen, aber das half nicht viel. Die Schmerzen waren denen der Geburtswehen nicht unähnlich, und ich dachte plötzlich an das arme unschuldige Wesen in meinem Leib, das ich nicht gewollt hatte. Jetzt fürchtete ich um sein Leben. Die Vorstellung, ihm wäre etwas geschehen, tat mir in der Seele weh. Ich bereute meinen sündigen Eigennutz zutiefst und versprach dem gütigen Vater im Himmel, dass ich nie wieder die Empfängnis eines Kindes verfluchen würde, wenn er nur dieses hier durchkommen ließ. Aber der liebe Gott war auch nicht mehr auf meiner Seite. Eine halbe Stunde nach dem ersten Ziehen im Becken wurde ich von grausamen Krämpfen geschüttelt, und dann – nun ja, dann kam das, was einmal ein Kind hätte werden sollen.
Ich kroch auf allen vieren zum Bett, hievte mich hinein und blieb dort den ganzen Tag liegen. Ich war froh, dass Hannes Hilde mitgenommen hatte. Ich würde unbehelligt den ganzen Tag hier verbringen und hoffen können, dass ich schnell wieder genesen würde. Denn wenn Hannes erfuhr, dass ich eine Fehlgeburt gehabt, ihm also meine Schwangerschaft verschwiegen hatte, dann würde er noch mehr toben als sonst.
Er tauchte weder am Abend noch in der Nacht auf. Ich war darüber heilfroh, fragte mich jedoch, wo er schlafen und was er mit Hildchen anstellen würde. Es war ja nicht so, als hätte es in São Leopoldo Herbergen und Wirtshäuser in großer Menge gegeben. Die einzige Schänke, bei der er wahrscheinlich der beste Gast war – wenn auch nicht der mit der besten Zahlungsmoral –, erschien mir nicht als der geeignete Ort, um dort mit einem Kleinkind die Nacht zu verbringen. Ob er unsere Tochter bei Christel und Franz abgeliefert hatte? Oder bei den Schmidtbauers? Ich konnte es nur hoffen.
Am nächsten Morgen ging es mir, körperlich zumindest, sehr viel besser, wenngleich ich mich schwach fühlte. Doch
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