Das Mädchen am Rio Paraíso
meine Moral war, wenn das überhaupt möglich war, noch weiter gesunken. Ich hatte keine Lust, aufzustehen. Mir war nicht danach, mich zu waschen, anzuziehen und mir ein Frühstück zuzubereiten. Ich hatte keinerlei Appetit. Ich wollte niemanden sehen. Wach sein wollte ich nicht, aber schlafen konnte ich auch nicht. Ich hatte sämtlichen Lebensmut verloren. Ich lag im Bett, starrte an die Decke und dachte daran, mit wie viel Eifer und Zuversicht wir dieses Haus gebaut hatten. Ich hätte heulen können, aber selbst meine Tränen waren versiegt.
Irgendwann stand ich trotzdem auf. Es lag mir wohl im Blut, dieses Pflichtbewusstsein. Ich führte die alltäglichen Handgriffe aus und fühlte mich dabei wie betäubt. Ich holte Wasser aus dem Brunnen, füllte die Waschschüssel sowie den Spülstein und setzte eine dünne Suppe auf. Reine Macht der Gewohnheit – denn ich wollte sie bestimmt nicht essen, und Hannes würde sie, wenn er denn wieder heimkäme, auch nicht essen wollen. Er würde den Teller, wie er es schon so oft getan hatte, auf dem Fußboden auskippen und mich für meine schlechten Kochkünste beschimpfen. Dass in eine gute Suppe Zutaten gehörten, die
er
nicht imstande war heranzuschaffen, brauchte ich ihm nicht zu sagen. Hätte er es nicht selber gewusst, hätte er mich für eine so aufsässige Bemerkung eh nur mit einer neuen Gemeinheit bestraft.
Ich ließ die Suppe auf kleiner Flamme vor sich hin köcheln. Dann schaute ich mich in der Stube um. Plötzlich kam es mir vor, als wäre ich in anderer Leute Haus. Ich sah die Dinge mit dem klaren und unvoreingenommenen Blick einer Fremden: den Schmutz, die überfälligen Reparaturen, die Töpfe unter den undichten Stellen im Dach, die fleckigen Kissenbezüge. Es kam mir gar nicht vor, als befände ich mich bei mir daheim – und ebenso wenig, wie eine Fremde dazu Lust gehabt hätte, wollte ich dieser Verwahrlosung mit Scheuerlappen oder sonst wie zu Leibe rücken. Es ging mich nichts an.
Ich ging nach draußen, und auch dort hatte ich dieses merkwürdige Gefühl, dass alles weit entfernt war und nichts mit mir zu tun hatte. Die Hühner, die durch den mit Unkraut überwucherten Hof schritten und ähnlich träge waren wie ich; die schlecht festgezurrte Wäscheleine, an der noch ein vergessenes, gräulich verfärbtes Hemd hing; der verbeulte Blecheimer, der neben den Stufen herumlag; der leere, zerfetzte Sack, in dem sich einmal Zucker befunden hatte – all das betrachtete ich mit abwesendem Blick.
Früher einmal hatte ich mich gewundert, wieso manche armen Leute, der alte Ochsenbrücher zum Beispiel, sich so gehenließen. Man brauchte doch wahrhaftig nicht reich zu sein, um die Abfälle fortzuräumen oder zu verbrennen, um regelmäßig zu schrubben und Unkraut zu jäten. Wir hatten auch kein Geld für Dienstboten gehabt, und wir waren alle mit anderer Arbeit mehr als eingedeckt gewesen. Trotzdem hatten wir unseren Hof immer in Schuss gehalten. Jetzt aber stand ich vor einem Trümmerhaufen, der schlimmer aussah als es der Hof vom Ochsenbrücher je getan hatte, und es ließ mich vollkommen kalt. Ich hatte keine Lust mehr, die Stätte meiner Vereinsamung und meiner Qualen in Ordnung zu halten. Wenn alles hübsch sauber und gepflegt gewesen wäre, hätte das doch auch nichts geändert, oder? Und was andere darüber dachten, war mir erst recht gleich. Die anderen – die waren doch sowieso blind und taub. Wenn sie schon nicht erkannten, was mit mir geschah, dann brauchten sie auch nicht über den Zustand unseres kleinen Bauernhofs die Nase zu rümpfen.
Ich wünschte mir plötzlich, ich hätte noch einmal Gelegenheit, den alten Ochsenbrücher zu sehen. Jetzt verstand ich ihn. Nie wieder würde ich abfällig von seinem verdreckten Haushalt denken. Ich wusste, dass der Zustand des Hofs nur den seiner verwahrlosten, einsamen Seele widerspiegelte. Mich überkam auf einmal großes Mitleid mit dem Mann. Es war meine erste echte Gefühlsregung an diesem Tag. Mein Herz war also noch nicht abgestorben.
Ob es dieser Gedanke war, die Erleichterung, die er mir verschaffte, wusste ich nicht. Jedenfalls schnappte ich mir eine Sense und bahnte mir durch das Gestrüpp, das unser Grundstück immer mehr vereinnahmte, einen Weg zu den Feldern. Es war ein aussichtsloses Unterfangen, sie im Alleingang mähen und anschließend pflügen zu wollen, aber plötzlich hatte ich das Bedürfnis, etwas zu tun. Etwas Sinnvolles zu tun. Denn Nahrung brauchten wir schließlich, während wir auf
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