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Das Mädchen am Rio Paraíso

Das Mädchen am Rio Paraíso

Titel: Das Mädchen am Rio Paraíso Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ana Veloso
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beengten Verhältnissen überhaupt leben konnte. Warum hatten sie nicht einfach ein größeres Haus gebaut? Das hätte unwesentlich mehr Aufwand, dafür jedoch deutlich mehr Lebensqualität bedeutet.
    »Jeder einzelne Balken hier drin hat uns unfassbar viel Mühe gekostet«, sagte Klara.
    Hatte er laut nachgedacht? Konnte sie Gedanken lesen?
    »Mit wenigen Leuten und nur dem allernotwendigsten Gerät Bäume fällen, hierherschleifen, sie zersägen, sie zu einem Gerüst zusammenfügen – das war hart.« Ihr erschien das Haus nun selber viel zu klein. Sie rief sich die Arbeit in Erinnerung, die es sie gekostet hatte. Ja, damals hatten sie gedacht, es wäre vollkommen ausreichend. Sie waren sogar stolz darauf gewesen. Und sie hatten sich gesagt, dass man später, wenn die Familie wuchs, jederzeit anbauen konnte.
    Sie löste ihre Hand aus der von Raúl und ging zum Herd. Ihre Töpfe, ihr Geschirr und die Kochutensilien waren fort. Einzig ein selbstgehäkelter Topflappen, verschmutzt und an einer Ecke angebrannt, hing traurig an einem Haken. Sie nahm ihn und betrachtete ihn, als wäre er ein Fundstück aus einer anderen Zeit, ein interessantes Fossil, wie man es in den Schiefergruben im Hunsrück oft fand. Dann hängte sie ihn wieder an den Haken und ging zu der Tür, die die Schlafkammer von der Stube trennte. Die Tür, dachte sie, ausgerechnet die Tür war noch da. Warum nahm jemand wertlose Kochtöpfe mit, ließ aber eine so schön gearbeitete Tür zurück?
    Sie drückte sie vorsichtig auf. Die Kammer stank erbärmlich nach Moder. Bestimmt hatte die mit Maisstroh gefüllte Matratze allerlei Tiere angelockt. Die Möbel standen alle noch dort, wo Klara sie zuletzt gesehen hatte, aber alle tragbaren Gegenstände waren ebenfalls fort. Kissen, Wäsche, selbst die Waschschüssel und der Nachttopf waren verschwunden.
    Dann fiel ihr Blick auf einen winzigen Gegenstand, der inmitten von Staubknäueln und Spinnweben achtlos in der Ecke lag. Sie ging die Hocke und betrachtete ihn: einen kleinen Schuh, aus weichem Leder von Hannes passgenau angefertigt für Hildchen und ihre ersten Gehversuche. Klara hob das Schühchen auf, umklammerte es mit beiden Händen, hielt es sich unter die Nase und schluchzte in gekrümmter Haltung.
    »Es ist nur ein Schuh, den sie hier übersehen haben. Deiner Tochter geht es gut, das haben sie dir doch gestern im Dorf gesagt, oder?«
    Klara nickte. Sie wusste, dass Raúl recht hatte. Trotzdem kam es ihr vor, als wäre der Schuh ein böses Omen, ein Zeichen dafür, dass es ihrem Hildchen nicht gutging und es ihr an dem Notwendigsten mangelte.
    Raúl reichte ihr erneut die Hand, zog sie hoch und führte sie aus der Kammer hinaus. Als Klara durch den Türrahmen trat, wurde sie von irgendetwas geblendet. Es dauerte nur den Bruchteil einer Sekunde, aber es war eindeutig ein Funkeln gewesen, wie wenn die Sonne von Glas widergespiegelt wird. Doch was konnte das sein? fragte Klara sich. Alles, was eine halbwegs glatte oder glänzende Oberfläche besaß, war aus dem Haus geräumt worden. Sie ließ ihren Blick durch die Stube wandern, konnte jedoch nichts außer stumpfem Holz und Staub entdecken.
    »Was ist? Suchst du etwas Bestimmtes?«, fragte Raúl, dem Klaras aufmerksame Inspektion des Raums nicht entgangen war.
    »Nein.« Dennoch hielten der wachsame Blick und das Suchen an. Sie bückte sich, schaute unter dem Tisch nach, verschob die wackligen Stühle, kniete sich dann mit ausgestrecktem Hinterteil hin, um unter dem Spülstein und unter dem Schrank nachzusehen. Nichts außer Mäusedreck und Moos.
    Sie richtete sich wieder auf. Und dann sah sie, was den einen Sonnenstrahl reflektiert hatte, der jetzt, am späten Vormittag, ihr düsteres Haus erhellte. Neben dem Herd, versteckt zwischen den Brennholzscheiten, die ebenfalls mit Spinn- und Staubweben überzogen waren und in denen tote Insekten hingen, lag der abgetrennte Kopf der Porzellantänzerin.
    Ein Schwindel ergriff sie, und sie hielt sich mit einer Hand an Raúls Rockärmel fest, während sie mit der anderen ihre Stirn umfasste.
    »Ist alles in Ordnung?«, fragte er besorgt.
    »Ja«, antwortete sie mit belegter Stimme. Aber das stimmte nicht. Nichts war in Ordnung. Denn blitzartig erschien mit größter Klarheit jenes Bruchstück der Ereignisse vor ihrem geistigen Auge, an das sie sich bisher vergeblich zu erinnern versucht hatte. Der Abend der Tragödie.
    Plötzlich war alles wieder da.

[home]
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    H annes hielt sich mit einer Hand an der Stuhllehne

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