Das Mädchen am Rio Paraíso
legte. Die Geste ließ ihn sehr erwachsen wirken. Seine Augen wanderten über meinen Körper hinauf zu meinem Gesicht. Als unsere Blicke sich trafen, hob er eine Augenbraue und sagte mit rauchiger Stimme: »Ach, tu doch nicht so unschuldig, Klärchen.«
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10
S ie hieß Klärchen! Natürlich – Klara Helene Liesenfeld! Geboren am 21 . November 1803 in Ahlweiler im Hunsrück, als neuntes Kind von Georg Liesenfeld und Sieglinde Liesenfeld, geborene Müller. Ah, es war herrlich, wieder einen Namen zu haben und die eigene Herkunft zu kennen!
Merkwürdig, dass sie sich nicht eher daran hatte erinnern können. Ob es daran lag, dass sie sich in den vergangenen Wochen für Menina gehalten und sich erst gar nicht bemüht hatte, ihren echten Namen herauszufinden? Oder war es, weil man von sich selber nicht in der dritten Person dachte? Wie auch immer – jetzt, da sie wusste, dass sie Klärchen hieß, kam ihr der Name Menina fremd vor. Oder war es vielleicht gar kein Name? War es ein normales Hauptwort und bedeutete so viel wie Frau? Oder Deutsche? Oder Idiotin? Diese Leute hier mussten sie wirklich für komplett verblödet halten.
Sie zückte ihr Notizbüchlein und den Stift, die sie jederzeit griffbereit hatte, seit sie vor einigen Tagen die Idee gehabt hatte, sich Notizen zu machen. Sie schrieb in sauberen lateinischen Druckbuchstaben ihren Namen und ihren Geburtstag nieder. Die gotische Schrift konnte der Finsterling sicher nicht lesen, und Teresa war des Lesens und Schreibens überhaupt nicht mächtig. Dann lief sie aufgeregt in die Küche. Sie wedelte mit dem Büchlein vor Teresas Nase herum, um ihr klarzumachen, dass sie das Geschriebene schnellstens dem Mann zeigen sollte, der laut ihren eigenen Notizen »Senjohr Ra-ul« hieß.
Mit Gesten erklärte sie Teresa, dass sie, Menina, gar nicht Menina hieß, sondern Klara. Sie zeigte immer wieder auf sich und wiederholte: »Klara. Ich heiße Klara.« Sie war über ihre Entdeckung so begeistert, dass sie sich lachend im Kreis drehte und dabei immer wieder rief: »Klara! Klara Liesenfeld!«
»Clara?«, fragte Teresa skeptisch. Sie hatte die junge Frau noch nie so aufgekratzt erlebt und befürchtete, dass sie nun vollends von allen guten Geistern verlassen war. Oder hatte sie sich an dem Cachaça vergriffen, der noch von gestern auf der Anrichte im Esszimmer stand? Es waren Gäste da gewesen, junge Männer, die bis spät in die Nacht getrunken und dummes Zeug geredet hatten.
Klärchen nickte und wiederholte, leiser diesmal: »Klara.«
Der nachdenklichere Ton in der Stimme der jungen Frau machte das Gesagte eindringlicher, als sei es dadurch wahrer, dass man es nicht herausschrie. Allmählich begann Teresa, ihr zu glauben. Sie ging zu ihr hin und streichelte ihre Wange. »Clara,querida, que bom que você recuperou sua memória!« [1]
Klara verstand kein Wort, aber sie begriff durchaus, was gemeint war. Eine Träne kullerte ihre Wange hinab, und Teresa fing sie mit dem Finger auf. Dann umarmten die beiden Frauen sich. Beide schluchzten – Klara vor Erleichterung, Teresa vor Sorge, dass ihr Schützling nun sicher bald fortgehen würde. Teresa war es ein bisschen peinlich, dass sie sich zu einer solchen Gefühlsregung hatte hinreißen lassen. Um von ihren Tränen abzulenken, ließ sie Klara abrupt los, lief in die Vorratskammer und kam, als sie sich gesammelt hatte, mit einer Flasche billigen Weinbrandes zurück, den sie ab und zu beim Kochen brauchte.
»Isso merece um brinde!«
Klara lachte und weinte gleichzeitig. Auf Deutsch antwortete sie: »Ja, darauf trinken wir ein Gläschen.«
Sie ging ins Esszimmer und holte aus der Vitrine zwei Sherrygläser. Sie hatte keine Ahnung, welches Glas für welches Getränk benutzt wurde, aber diese kleinen kristallenen Stielgläser gefielen ihr.
Zurück in der Küche setzte sie sich an den großen Tisch, Teresa schräg gegenüber, und baute mit großem Getue die Gläser vor ihnen auf. Mit ähnlich großspurigen Gesten schenkte Teresa den Weinbrand ein.
»Saúde«,
sagte Teresa feierlich.
»Prost«, erwiderte Klara. Sie trank das Gläschen in einem Zug aus. Dann schrieb sie sich sogleich das portugiesische Wort auf, das unmissverständlich »Prosit« oder »Zum Wohl« bedeutet hatte. »Sa-u-dschi« notierte sie in ihrer improvisierten Lautschrift.
»Gibt es hier was zu feiern?«, quakte plötzlich Aninha. Das Mädchen stand vor dem geöffneten Fenster, hatte die Arme in die Taille gestemmt und sah sehr beleidigt aus,
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