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Das Mädchen am Rio Paraíso

Das Mädchen am Rio Paraíso

Titel: Das Mädchen am Rio Paraíso Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ana Veloso
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die größte Träumerin von allen, nicht wahr?«, fuhr Theo in seiner Ansprache fort, die ich schon tausendmal, wenn auch in anderem Wortlaut, gehört hatte. »Mich hast du von oben herab behandelt, als wärst du eine Königin und ich ein Aussätziger. Dass es in Wahrheit andersherum sein könnte, das ist dir nie in den Sinn gekommen: dass nämlich du diejenige bist, die für alle eine Belastung ist. Weil dir kein Mann gut genug ist, müssen wir dich aus purer Nächstenliebe durchfüttern. Aber weißt du was, liebe Schwägerin, ich sehe mir das nicht länger mit an. Ich schlage vor, du heiratest möglichst bald den Konrad. Der ist ein braver Kerl, tüchtig wie keiner von deinen Brüdern, der ist ehrlich, trinkt nicht und führt ein gottgefälliges Leben. Was er an dir findet, ist mir schleierhaft, aber jeder weiß ja, dass er ganz vernarrt in dich ist. Den heiratest du.«
    »So?« Ich fand den Konrad todlangweilig – wenn auch lange nicht so unerträglich wie meinen Schwager Theo. »Und wer bist du, dass du mir vorschreiben willst, wen ich heirate? Du besitzt nicht einmal das Land, das du bearbeitest. Du bist ein Habenichts und Großmaul. Du erstickst fast an deinem Neid auf andere Leute, solche wie mich, die schöner sind als du, klüger und reicher.«
    »Reicher? Ha!« Theo sah mich geringschätzig an. »Dein Land und das deiner Familie wäre keinen Heller wert, wenn ihr mich nicht hättet. Ihr wärt wahrscheinlich alle schon hungers gestorben, allen voran du.«
    »Wenigstens habe ich noch Träume. Und bevor ich einen heirate wie dich oder den Konrad, verhungere ich lieber.«
    »Schluss!«, schritt Hildegard ein. »Für deinen Undank hättest du eine Tracht Prügel verdient. Du kannst dem lieben Gott danken, dass wir den Theo haben.«
    »Er benimmt sich, als wäre Vater schon tot!«, ereiferte ich mich. »Er reißt hier alles an sich, und oben liegt unser armer Vater und kann nichts mehr dagegen tun. Aber ich lasse mir das nicht bieten!«
    »Du kannst ja weggehen«, meinte Theo hämisch. »Fragt sich nur, wohin.«
    »Ich gehe weg, verlass dich drauf. So bald wie möglich. Und da dir das anscheinend so wichtig ist, wirst du froh sein zu hören, dass ich den Konrad einfach nicht heiraten
kann.
Ich wäre dann ja eure Nachbarin.«
    »In der Tat, eine furchtbare Vorstellung.«
    »Oh – mich wundert, dass du dir überhaupt etwas vorstellen kannst, was außerhalb der Grenzen des Hühnerpferchs liegt.« Damit schritt ich energisch aus dem Raum und warf die Tür mit Wucht hinter mir zu.
    Ich war sehr aufgebracht und fragte mich einen Augenblick lang, ob ich mich Vater anvertrauen sollte. Der konnte seit seinem dritten Schlaganfall nichts mehr sagen und war zu einer Art Beichtvater für mich geworden. Er gab nur durch ein leichtes Drücken der Hand zu erkennen, dass noch irgendetwas zu ihm durchdrang. Ich verstand dieses Händedrücken als Zuspruch, aber im Grunde hatte ich keine Ahnung, was hinter der zerfurchten Stirn meines Vaters vor sich ging. Vielleicht stimmte er sogar Theos Ansichten zu. Ich entschied mich schließlich gegen einen Besuch an der Krankenstatt.
    Ich legte mir einen Schal um die Schultern und ging hinaus. Nur im Freien hatte ich je die Möglichkeit, ungestört nachzudenken. Ich spazierte zu meinem Lieblingsort am Bach. Im letzten Sommer noch hatten Michel und ich unsere Füße in das eiskalte Wasser gehalten und uns gegenseitig nass gespritzt. Jetzt, im September, war die Luft schon empfindlich abgekühlt, und ich musste mich mit dem Anblick des Bachs begnügen, bei dem mich große Wehmut überfiel. Was sollte ich nur anstellen mit meinem Leben? Im Haus meines Vaters, in dem ja nun Theo der unangefochtene Herrscher war, konnte ich nicht bleiben – ich würde meine Selbstachtung verlieren, wenn Theo mich weiterhin als unnötigen Ballast bezeichnete. Weggehen konnte ich ebenfalls nicht. Wohin schon? Was erwartete eine junge Frau, wenn sie allein ihr Glück in der weiten Welt zu machen versuchte? Elend, Schmutz, Armut, Ehrverlust.
    Irgendwo in meinem tiefsten Innern gab es noch immer die Stimme, die mir einflüsterte, dass mir im Leben etwas Schöneres vorherbestimmt war. Aber ich war ja keine vierzehn mehr. Mein Verstand sagte mir, dass ich etwas unternehmen musste, und zwar bald. Hier zu sitzen und darauf zu hoffen, dass sich ein Märchen erfüllte, das würde nichts fruchten. So realistisch war ich inzwischen. Ich mochte es mir nur ungern eingestehen, doch ich sah keinen anderen Weg, als zu

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