Das Mädchen am Rio Paraíso
heiraten.
Nur wen? Michel, den ich seit Jahren als meinen Bräutigam betrachtet hatte, hatte sich aus dem Staub gemacht. Konrad kam überhaupt nicht in Frage, mochte er auch noch so ein braver Kerl sein. An seiner Seite würde ich mit Sicherheit verkümmern, und zwar noch vor Erreichen meines 21 . Lebensjahres, also der Volljährigkeit. In Ahlweiler und der näheren Umgebung blieben dann nicht mehr viele geeignete Kandidaten übrig. Vielleicht sollte ich mir mal den Vetter von Anna, die inzwischen meine Schwägerin war, genauer ansehen. Sie schwärmte von ihm, dass man, wenn er nicht mit ihr verwandt gewesen wäre, hätte meinen können, sie wäre unsterblich in ihn verliebt. Oder sollte ich lieber auf das Angebot von Paul eingehen, einem Vetter dritten Grades von Lore, der mich seit einer Ewigkeit damit belämmerte, dass er mir die schönsten Tanzschuhe im ganzen Hunsrück anfertigen würde, wenn ich mit ihm zur Kerb in Putzenfeld ging?
Ach, es war ein Kreuz! Wie sollte mein Leben sich jemals zum Besseren wenden, wenn ich nicht einmal in der Lage war, einen geeigneten Ehemann zu finden? Ich hielt die Burschen, die so ganz nach Theos und Vaters Geschmack gewesen wären, allesamt für fade und plump und konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, an ihrer Seite zu leben. Aber wahrscheinlich war es immer noch ein besseres Los, als Ehefrau von Paul oder Konrad zumindest ein gewisses Maß an Selbständigkeit zu erlangen, als unter Theos Fuchtel zu bleiben und auf immer die jüngste – und damit rechtloseste – Tochter des Hauses zu sein.
Ich faltete meinen Schal zu einem Viereck zusammen, das ich als Kissen verwendete, und ließ mich auf einem Felsen an der Uferböschung nieder. Ich muss erbarmungswürdig ausgesehen haben, wie ich da mutlos auf dem Stein kauerte und einen trübsinnigen Gedanken nach dem anderen wälzte, aber es sah mich ja gottlob niemand. Ich blieb noch eine ganze Weile dort sitzen. Erst als die Abenddämmerung herabsank und ich plötzlich fror, legte ich mir den Schal wieder um und ging nach Hause. Daheim im Bett weinte ich mich in den Schlaf.
Doch die Lösung meiner Probleme zeichnete sich schneller ab als erwartet.
Am Tag nach dem Streit mit Theo mied ich seine und die Gesellschaft meiner Geschwister weitgehend, indem ich zur Agnes ging, wo ich einen ganzen Haufen löchriger Sachen zum Ausbessern mitbekam, und später zum Backes, wo mal wieder viel geredet und getratscht wurde.
»Der Hannes will nach Amerika auswandern.« Das war die große Neuigkeit des Tages, vorgetragen mit wichtiger Miene von der jüngeren Schwester des Helden.
»Nein!«
»Sag bloß!«
»Wo ist denn das?«
»Was will er denn da?«
»Ist ja nicht die Möglichkeit!«
Es war eine große Aufregung und ein unglaubliches Geschnatter, das daraufhin losbrach. Wir waren alle hingerissen von der Ungeheuerlichkeit dieser Nachricht. Wir wussten nicht, ob wir das Ganze für wahr halten sollten, denn Amerika schien uns beziehungsweise denjenigen von uns, die wussten, dass es sich um einen anderen Kontinent handelte, sehr weit entfernt – und sehr weit hergeholt die Möglichkeit, dass sich einer von uns, aus Ahlweiler, auf eine derart gewaltige Reise begeben sollte.
»Er hat gesagt, er will da Tabak anbauen.« Die junge Helga klang ganz ruhig und gefasst, aber mir war, als würde sie jeden Moment in Tränen ausbrechen.
»Tabak!«
»Das ist ja unglaublich!«
»Woher hat er nur solche wirren Ideen?«
Eine so spannende Sache hatte es in unserem Dorf schon lange nicht mehr gegeben. Wir quetschten die arme Helga nach Einzelheiten aus, und nicht einmal die Tränen, die sie wenig später tatsächlich vergoss, hielten uns auf. Wir ließen nicht von ihr ab, bis wir jedes Fitzelchen dieser Neuigkeit aus ihr herausbekommen hatten. Jede von uns wollte beim Abendbrot von der Sensation berichten und mit dem Wissen von Eingeweihten glänzen. Um es kurz zu machen: Hannes hatte auf dem Markt einen Burschen kennengelernt, der von einem entfernten Onkel zu berichten wusste, der nach Amerika gegangen und dort mit Baumwolle und Tabak steinreich geworden war. Klammheimlich hatte Hannes sich daraufhin erkundigt, wie man denn nach Amerika käme, was man für Papiere und wie viel Geld man brauchte. Und für einen wie ihn, der ein Handwerk erlernt hatte, der ledig, jung und gesund war, schien alles ganz einfach zu sein, wenn man einmal von den Gefahren der Seereise und den Attacken der Indianer absah – hierbei brach Helga endgültig in
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