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Das Mädchen am Rio Paraíso

Das Mädchen am Rio Paraíso

Titel: Das Mädchen am Rio Paraíso Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ana Veloso
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sie nach kurzer Suche ausfindig gemacht hatte. »Da komme ich her.« Dann drehte sie den Globus weiter und zog mit dem Finger eine Linie vom Rhein bis nach Rio de Janeiro. Teresa zog zweifelnd den Kopf zurück, so dass sich ein Doppelkinn bildete, und glotzte sie aus großen Augen an. »É de tão longe que você vem? Não está mentindo pra mim, está?«
    »Was habt ihr zwei hier in meinem Arbeitszimmer verloren?« Raúl stand in der Tür und sah verärgert aus. Er trug einen Hausmantel, unter dem die nackten, dichtbehaarten Beine hervorsahen. Klara wendete verschämt den Blick ab. In diesem Aufzug sollte ein Mann sich nicht vor Frauen zeigen, auch nicht, wenn er der Hausherr war. Er gähnte. Unter seinen Augen zeichneten sich Ringe ab, die von einer langen Nacht zeugten, und auf seinen Wangen lag ein dunkler Schatten, weil er sich noch nicht rasiert hatte. Er sah noch furchteinflößender aus als sonst. »Und wieso«, fuhr er fort, »macht ihr dabei so einen Lärm? Kann man nicht einmal in Ruhe ausschlafen?«
    »Das tut uns sehr leid, Senhor Raúl«, sagte Teresa, ohne jedoch auch nur im Geringsten zerknirscht auszusehen oder zu klingen. »Es war nur so, dass Menina jetzt wieder weiß, wie sie heißt, nämlich Clara, und wo sie herkommt. Das hat sie mir auf der Erdkugel zeigen wollen. Und es duldete verständlicherweise keinen Aufschub – unsere Kleine ist vor lauter Aufregung und Freude noch immer ganz durcheinander.«
    »Aha.« Raúl sah die junge Frau an. »Clara, hm? Also dann, herzlich willkommen in der Gegenwart. Und jetzt raus aus meinem Arbeitszimmer.« Er drehte sich auf der Ferse um und schlurfte wieder in sein Zimmer, wo er sich so schwer auf sein Bett fallen ließ, dass die Holzdielen im ganzen Haus erbebten.
     
    Als er wenige Stunden später, diesmal korrekt gekleidet, rasiert und in deutlich besserer Stimmung, im Esszimmer saß und sich ein spätes Frühstück servieren ließ, überraschte er Teresa mit einem Vorschlag.
    »Was hältst du davon, wenn wir unserer Menina, ich meine Clara, heute mal diese schöne Stadt zeigen? Sie ist seit Wochen nicht vor die Tür gekommen, und inzwischen müsste sie doch wieder so weit hergestellt sein, dass sie der Belastung gewachsen ist, oder nicht?«
    »Ja, sie ist zwar noch ein bisschen wacklig auf den Beinen, aber wenn sie die Kutsche nicht allzu oft verlassen und irgendwelche Berge erklimmen muss, wird ihr ein Ausflug sicher guttun. Und es bekommt ihr bestimmt ausgezeichnet, unter Menschen zu gehen und einmal etwas anderes zu sehen als immer nur uns und dieses Haus.«
    »Nun, wir wollen sie ja nicht überfordern. Ich dachte eher daran, dass wir mit ihr jemanden besuchen. Ich will mit ihr zu einem Herrn gehen, der des Deutschen mächtig ist. Eduardo hat mir gestern Abend von ihm erzählt. Er ist ein entfernter Bekannter von ihm, aber Eduardo hält ihn für absolut vertrauenswürdig – je nachdem, was er herausfindet, müssen wir uns ja auf seine Diskretion verlassen können. Dieser Mann ist Professor für Altertumskunde und beherrscht an die zwölf Sprachen. Vielleicht bekommt der mehr aus ihr heraus als wir.«
    Teresa wackelte kritisch mit dem Kopf. »Sie können es gar nicht erwarten, sie loszuwerden, stimmt’s?«
    »Ehrlich gesagt: nein. Ich kann es nicht erwarten, dass diese Bürde von uns genommen wird, und noch viel weniger kann ich es erwarten, wieder heimzufahren. Fehlt dir die
estância
denn nicht auch? Die Gesellschaft von Tomás, von Maria Dolores oder von Hinkebein João?«
    Die genannten Personen waren alle Sklaven, die schon seit vielen Jahren bei Raúl lebten und die, für ihn genau wie für Teresa, zu einer Art Familie geworden waren.
    »Außerdem«, ergänzte er, ohne Teresas Antwort abzuwarten, »kannst du das Mädchen ja nicht wie eine Puppe behandeln. Irgendjemand vermisst sie bestimmt ganz fürchterlich. Stell dir ihre Leute vor, die müssen vor Sorge schier vergehen. Vielleicht ist sie mit ihren Eltern und Geschwistern hier, vielleicht hat sie einen Verlobten, was weiß ich. Wir haben viel zu lange gewartet, um das herauszufinden. Und solange Clara noch nicht auf dem Damm war und ihr Gedächtnis diese Lücken aufwies, war es wahrscheinlich ganz gut, dass wir ihr hier die Ruhe und die Zeit gelassen haben, zu sich zu kommen. Aber jetzt müssen wir etwas unternehmen.«
    Teresa wusste, dass Raúl recht hatte. Dennoch tat es ihr in der Seele weh, Klara wieder hergeben zu müssen. »Also schön. Aber erstens komme ich mit – auch zu dem

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