Das Mädchen Ariela
kommen.« Er wischte sich über das staubige Gesicht und sah auf Schumann, der unter einer Zeltplane lag und röchelnd atmete.
»Vergiß nicht, was du mir versprochen hast, Moshe«, sagte Ariela, ehe Rishon weitersprach. »Er muß mit! Oder ich bleibe bei ihm …«
Rishon schwieg. Es gab darüber keine Diskussionen mehr, er wußte es. Über Dinge zu reden, die keine Worte brauchen, war Verschwendung. Er ging zum Wagen zurück, nahm einige Stricke und Lederriemen aus dem Handwerkskasten und konstruierte aus ihnen eine Art Tragesitz. Um Brust und Schultern schlangen sich die Riemen, und auf dem Rücken war eine Art Netz, in das er Schumann stecken wollte. So – hoffte er – konnte es möglich sein, den Kranken die zweiundzwanzig Kilometer mitzuschleppen. Es würde ein Weg werden, wie ihn noch kaum je ein Mensch zurückgelegt hatte. Schumann war schwer, ein großer, stämmiger Mann; ihn auf dem Rücken mitzuschleppen, durch Geröllschluchten und Wüste, würde bedeuten, daß sie nur sehr, sehr langsam vorwärtskamen.
»Wir werden zehn Tage unterwegs sein«, sagte Rishon, als er seine Tragekonstruktion zur Probe umgeschnallt hatte.
»Und wenn es hundert Tage sind …«, sagte Ariela laut.
»Wir haben einen Wasservorrat für fünf Tage! Du darfst ihm nicht mehr das Gesicht waschen …«
»Er braucht es! Es tut ihm gut.« Ariela kniete neben Schumann und streichelte seine Stirn.
Rishon gab es auf, ihr Ratschläge zu geben. Sie ist wie ein Wüstenfuchs, dachte er, der noch auf den Stümpfen seiner abgeschossenen Beine weiterläuft …
Als die Nacht kam, legten sie Schumann in das Netz. Nur unter größter Anstrengung gelang es Rishon, sich mit dem Kranken auf dem Rücken aufzurichten. Der Kopf und der Oberkörper Schumanns lagen über seiner linken Schulter. Es schien Rishon, als trage er eine ganze Welt aus Blei auf seinen Schultern.
»Geht es, Moshe?« fragte Ariela. Sie hatte das Zelt, den Kocher, die Wasserkanister, zwei Decken, zwei Brotbeutel voll Kekse und Büchsen an Stricken rund um ihren Körper verteilt und trug vor der Brust auch noch Rishons Maschinenpistole und einen Sack mit gefüllten Patronenmagazinen. Sie lächelte etwas verzerrt, denn Rishon sollte nicht merken, wie sie unter diesen Lasten fast zusammensank.
Rishon nickte kurz. Er holte tief Atem und machte den ersten Schritt.
Es war eine höllische Qual für Rishon und Ariela. Wie Trunkene schwankten sie durch die Wüste. Nach hundert Metern lehnte sich Rishon an einen verwitterten, großen Felsstein, um Atem zu schöpfen. Vor seinen Augen tanzten bunte Punkte und Kreise, die Wüste war voll feuriger Kobolde, die hin und her hüpften. Wenn er atmete, war es, als zerrisse seine Lunge.
Er sah zurück und entdeckte zwischen den Felsen den Kessel des Milchwagens. Das ist alles, was ich bis jetzt geschafft habe, dachte er und schloß die Augen. Eine Wegstrecke, die man normalerweise in einer Minute zurücklegt. Hundert Meter, und ich bin am Ende. Ariela, ich bin am Ende! Hundert Meter … und zweiundzwanzig Kilometer liegen vor uns. O Gott … wie sollen wir dort jemals ankommen …
Er schwankte weiter und hörte hinter sich das Tappen von Arielas Füßen. »Wie geht es dir?« brüllte er. Er mußte brüllen, es war die einzige Möglichkeit, seiner Stimme noch einen Klang zu geben.
»Sprich nicht …« Es war ein Schrei, wie ein Echo auf sein Brüllen. »Weiter, Moshe …«
Sie legten in dieser Nacht ungefähr zwei Kilometer zurück. Als der Morgen dämmerte, fielen sie um und lagen fast eine Stunde bewegungslos im Sand, ehe sie neue Kraft fanden, das Zelt aufzubauen und Schumann hineinzuziehen. Dann sahen sie sich aus hohlen Augen an, und in ihrem Blick lag die schreckliche Wahrheit: Es ist umsonst! Wir schaffen es nie! Die Wüste ist gegen uns, die Sonne, der heiße Wind, das Fieber.
»Geh allein«, sagte Ariela, als sie heißen Tee getrunken hatten. Zum Essen waren sie zu müde. »Geh bitte allein, Moshe …«
»Reden wir nicht darüber.« Rishon legte sich unter eine aufgespannte Decke, ein winziger Schatten in der Glut, die wieder mit der Sonne in den Himmel stieg.
Aber als der Abend kam und Rishon sich wieder seine Tragekonstruktion umschnallen wollte, hielt Ariela seine Hände fest.
»Es hat keinen Sinn, Moshe«, sagte sie. »So erreichen wir nie die Grenze. Laß uns vernünftig sein, laß uns ganz nüchtern denken …«
»Ich lasse dich nicht allein zurück!« Rishon sah zu dem kleinen Zelt, aus dem Schumanns Beine herausragten.
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