Das Mädchen Ariela
zwischen den Armen.
»Unterschätzen Sie mich nicht, Mahmud«, sagte Suleiman und gab dem Soldaten die Peitsche zurück. »Es wäre zu billig, Sie in Streifen zu schlagen.«
»Ich verlange ein Gerichtsverfahren«, stammelte Mahmud. »Ich verlange ein Verfahren vor einem ordentlichen Gericht. Vor dem Staatsgerichtshof in Amman …«
»Das sollen Sie haben – wenn Sie Amman erreichen. Bis dorthin sind es noch fünfunddreißig Kilometer. Das ist ein langer Weg für einen Mann wie Sie.« Suleiman ging zur Tür. Er hatte durch das Fenster Narriman gesehen. Zwei Soldaten führten sie durch den Garten. Sie stützte sich auf die Schultern der Männer und war kaum fähig, allein zu gehen. »Was ist Ihr größter Schatz?« fragte er kühl.
»Ich verstehe Sie nicht …«, stotterte Mahmud.
»Was ist Ihr wertvollster Besitz?«
»Ein Brillant. Dreiundvierzig Karat …«
»Wo ist er?«
»Im Tresor.« Hoffnung glomm in Mahmuds Augen auf. »Ich verehre ihn Ihnen, Suleiman. Er ist ein einmaliges Stück an Reinheit und Feuer. Er blitzt wie tausend Sonnen …«
»Nehmen Sie ihn mit.«
Mahmud sprang auf. Die Hoffnung, sich freikaufen zu können, belebte ihn wie perlender Wein. Er stürzte auf Suleiman zu und ergriff dessen Hände.
»Ich kann mehr geben, Suleiman, viel mehr. Im Tresor, auf der Bank von Amman, liegen in einem Ledersack –«
Suleiman ließ ihn nicht zu Ende reden. Er schob Mahmud zur Seite und verließ das Zimmer.
Eine halbe Stunde später war der große dunkle Wagen Suleimans auf der Straße nach Amman. Die zwanzig Reiter der Arabischen Legion auf ihren weißen Hedschas-Kamelen folgten ihm im leichten Trab. In ihrer Mitte fuhr Mahmuds Wagen. Der Obereunuch lenkte ihn. Auf Mahmuds Worte gab er keine Antwort mehr. Es war, als chauffiere er eine Leiche.
Kurz vor Amman, bei den Ruinen von Qasr el Meschatta, bog der Trupp von der Hauptstraße ab und folgte einer schmalen Piste, bis er auf die Karawanenstraße von Azraque stieß.
Eine Straße in die Unendlichkeit der Wüste. Ein Pfad zu Hitze, Durst, Einsamkeit und Stille.
Mahmud kurbelte das Fenster herunter und sah empor zu dem Reiter, der neben dem Wagen ritt.
»Wohin fahren wir denn?« rief er. »Man will mich doch nach Amman bringen? Wohin geht es denn?«
Niemand gab ihm Antwort.
Stumm und ernst zogen die zwei dunklen Wagen und die zwanzig Kamele durch den Staub. In unwahrscheinlicher rotgoldener Pracht versank die Sonne, und die Wüste erschien wie ein See aus Blut.
Die gezackten Mauern eines Forts tauchten auf … eine viereckige steinerne Festung, ein Turm, auf dem die Fahne Jordaniens wehte. Ein Hornsignal flatterte zu dem Trupp herüber, ein Hornist der Kamelreiter antwortete. Aus dem Tor des Wüstenforts fuhren ihnen zwei Jeeps entgegen.
Mahmud ibn Sharat lehnte sich zurück und schlug die Hände vor sein brennendes Gesicht.
Er hatte die letzte Stätte seines Lebens gesehen.
Es war eines jener Wüstenforts, wie sie der ehemalige englische Kommandeur und Ausbilder der berühmten jordanischen Arabischen Legion, Glubb-Pascha, hatte anlegen lassen, um rebellierende Nomaden- und Beduinenscheichs in Schach zu halten und die Freiheit Jordaniens auch dort zu schützen, wo die stolzesten Menschen dieser Erde leben: in der Wüste.
Kasemattengebäude, Ställe und Garagen umschließen als Viereck den großen Appellplatz, in dessen Mitte an einer hohen Fahnenstange die Flagge Jordaniens weht. An den vier Ecken sind Türme auf die Dächer gesetzt. Von dort übersieht man die Wüste weit, und die schweren Maschinengewehre können auch nachts das Fort verteidigen, denn starke Scheinwerfer tauchen die gelbe Einöde über Hunderte von Metern in ein gleißendes Licht. Obwohl König Hussein mit allen Wüstenfürsten Frieden und Freundschaft geschlossen hat, sind die Forts auch heute noch besetzt, leben hier in völliger Abgeschiedenheit Kompanien der gefürchteten Kamelreiter, Außenposten der königlichen Macht, die nur ab und zu durch die Wüste jagen, um Räuber zu hetzen, die Karawanen überfallen haben. Denn auch in der Wüste gibt es Raub und Mord.
Mahmud ibn Sharat wurde in eine enge Zelle gesteckt, und keiner kümmerte sich um ihn. Er hockte sich auf die harte Holzpritsche und starrte auf die weiß gekalkte Wand, in die seine Vorgänger in dieser Zelle mit den Nägeln, mit kleinen, spitzen Steinen oder einem Holzspan Sprüche, Namen, Gebete oder Aufschreie geritzt hatten.
»Allah sei mit mir … ich sterbe morgen!« las er schaudernd. Oder: »Ich habe
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