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Das Mädchen Ariela

Das Mädchen Ariela

Titel: Das Mädchen Ariela Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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Ferne die Felsen des Negev, die am Abend wie Lavendel schimmern und am Tag wie mit Rost überzogen … und ein Zelt, ein winziges Zelt in dieser Weite von Himmel und Sand, ein Kranz von Sandsäcken, ein schmales Feldbett und eine Stimme an ihrem Ohr …
    Vor ihr war jetzt eine Lücke. Mit zwei Schritten war sie an der Mauer, ihre flachen Hände lagen auf dem rauhen Stein, strichen über die Spalten, die zwei Jahrtausende in die Quader gegraben hatten. In ihrer rechten Schulter zuckte wieder der Schmerz, aber sie verbiß ihn, sie hob den rechten Arm und breitete beide Arme aus, als könne sie die Mauer umarmen, als wäre es möglich, sich in Gott hineinzuwerfen wie in einen kühlenden See, sich zu baden in seiner Gnade, sich zu stärken an seiner Güte.
    Ihre Stirn sank gegen den Stein. So stand sie da, wie mit dem Gesicht zum Fels an die Mauer gekreuzigt, und dann sprach sie, mit geschlossenen Augen, und es war kein Gebet und kein Gesang aus den alten Büchern … es war eine neue Rede Hiobs an Gott, ein neues Hadern mit dem Herrn, ein wildes, verzweifeltes Suchen nach göttlicher Gerechtigkeit.
    »Ich danke Dir«, sagte Ariela gegen den rauhen, staubigen Stein, in dessen Ritzen ein Blick Gottes lag. »Du hast uns siegen lassen! Du hast unsere Feinde geschlagen. Du warst bei Deinem Volk, als es Dich nötig hatte, Gott! Aber wo warst Du bei mir? Ich bin nur ein kleines, armes, demütiges Mädchen – aber auch ich bin Dein Geschöpf! ›Mein Auge ruht auf jedem von euch‹, hast Du einmal gesagt. Wo war es, als ich ihn fand … Jetzt ist mein Herz wund, und ich kann nicht glauben, was wahr sein soll! Hilf mir, Gott! Die Menschen versagen … Nur Du bleibst! Hilf mir! Du hast den Menschen das Herz gegeben, damit sie lieben können. Ich kann nicht mehr zurück. Ich liebe ihn, Gott, ich liebe ihn – ob er hier ist, in Ägypten, in Jordanien, auf einem anderen Stern. Ich liebe ihn! Gib ihn mir wieder, Gott …« Sie sah an der Mauer empor in den Himmel. Sie hielt den Atem an, als könne sie Gottes Antwort hören. Ihre Finger gruben sich in die Ritzen der Quader, daß die Nägel abbrachen.
    »Hilf mir«, stammelte sie. »Da Du Gott bist, weißt Du, was Liebe ist …«
    Dann trat sie zurück, machte Platz für einen Soldaten, der an ihre Stelle trat und das Kadisch sprach. Das Totengebet für einen Kameraden, seinen Freund, der zweihundert Meter weiter am gestrigen Tag an einer Hauswand erschossen wurde.
    Sie schrieb noch einen Zettel, drängte sich wieder vor und steckte ihn in eine Ritze der Mauer.
    »Arnos Golan bittet um den Ewigen Frieden«, stand darauf.
    Noch lange stand Ariela an der Mauer, weit zurück, und starrte in den Himmel.
    Sie konnte sich nicht von der Mauer trennen.
    Sie hatte Gebete nachzuholen.
    Für ihren Vater. Für ihre Mutter. Für die Großeltern, die in Auschwitz verschwunden waren.
    Erst als die Sonne hinter Jerusalems Hügel versank und die Mauer grau und öde aussah, ging sie.
    In einigem Abstand folgte ihr Moshe Rishon.
    Sie bemerkte ihn nicht.
    Mit dem Ochsengefährt kamen sie tatsächlich bis Jericho.
    Man beneidete sie unterwegs überall, denn wer jetzt noch einen Karren und zwei Ochsen besaß, war ein reicher Mann. Die meisten jordanischen Flüchtlinge wanderten zu Fuß, mit riesigen Packen auf den Schultern oder auf dem Kopf. Einige hatten nicht einmal dies … Als sie aus ihren Häusern wegzogen, gebot der israelische Militärkommandant: Nicht mehr mitnehmen, als jeder tragen kann! Und was kann ein alter Mann schon tragen, wenn er am Stock geht? So nahmen sie nur das Wichtigste mit: Ein oder zwei Plastikkanister mit Wasser. Ein Säckchen mit Mehl, um sich Fladen zu backen. Einen Kochtopf, den man an den Gürtel band. Und das Liebste, was man hatte … Bei dem einen war es ein bunt bedrucktes Sofakissen, bei der alten Frau, die am Weg rastete, war es eine Kuckucksuhr, und sie erzählte, daß dieses seltene Ding ein Tourist dagelassen habe, dem sie einmal verlassene Gräber gezeigt habe, damit er sie fotografieren könne. Da war ein junger Mann, der eine zerbeulte Trompete über der Schulter trug wie ein wertvolles Gewehr. Ab und zu blies er hinein, wie um sich zu überzeugen, daß sie durch die Flucht nicht gelitten und ihren blechernen Ton behalten hatte.
    In Jericho stauten sich die Flüchtlingskolonnen. Daß die Stadt schon in israelischen Händen war, verwunderte niemand. Man hatte in diesem Blitzkrieg das Wundern verlernt und an Wunder glauben gelernt. Statt ins Meer getrieben worden

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