Das Mädchen Ariela
Geheimnis lag über dieser neuen Völkerwanderung von Westen nach Osten.
In dem langen Zug der Tausende marschierten auch Mahmud, Narriman und Schumann. Über der Allenby-Brücke am Jordan stand die Luft glühend wie in einem Backofen. Hier liegt das Tal 350 Meter unter dem Meeresspiegel. In weiß schimmernde Felsen hat sich der Fluß eingegraben; grünlich und dann wieder braungelb fließt der Jordan träge durch sein Felsbett … und dahinter und um ihn herum und so weit das Auge reicht, von Horizont zu Horizont, dehnt sich die Wüste, staubt der gelbe Sand, zerfallen die Steine in der Glut der nackt im milchigen Blau des Himmels stehenden Sonne.
Mahmud hielt an, als sie die Allenby-Brücke sahen. Kolonnen von Lastwagen, Kettenfahrzeugen, Jeeps und Panzern bildeten eine stählerne Mauer vor dem zerfetzten Eisenskelett der Brücke. Zelte mit der Rotkreuz-Fahne, Lastwagen mit der israelischen Sanitätsflagge, Männer und Frauen mit weißen Armbinden verengten den Flüchtlingsstrom bis zu den schmalen Holzbohlen, die schwankend über die Trümmer im Fluß gelegt waren.
Hier gab es die letzten Kontrollen. Hier wurden die Lastwagen ausgeladen, die aus dem Westen heranrollten. Menschenfracht. Elende, verbissene, stumme Araber. Mit leeren Augen starrten sie über den Jordan in das freie Reich ihres Königs Hussein. Hinter ihnen lag ein ganzes Leben. Dort waren die verlassenen Häuser, die kargen, aber geliebten Felder, dort waren die Gräber ihrer Vorfahren, die Gärten mit den niedrigen Mauern, die Ölbäume und Tamarisken, unter denen sie abends im Schatten saßen, rauchten und schweigsam über das schöne Land blickten, von dem Josua vor über 3.200 Jahren schon ausrief, er habe das Land gefunden, in dem Milch und Honig fließen. Das war nun alles vorbei. Für immer verloren.
Für immer?
Sie standen am Jordan und blickten nach Osten. Aber ihre Herzen blieben im Westen. Und ihre Kinder und Kindeskinder würden an das ferne, schöne Land denken, aus dem sie weggezogen waren, um zu hassen.
Mahmud und Narriman nahmen Dr. Schumann in die Mitte, als sie die Kontrollen zur Brücke passierten. Narriman ging voran, Dr. Schumann war in der Mitte, Mahmud folgte ihm, ganz nahe, unter dem schmutzigen Hemd die Pistole umklammernd. Jetzt, im Angesicht des Zieles, trugen sie nichts mehr mit sich. Die Ärmsten der Armen waren sie, vom Staub überkrustet. Zwei Männer des Internationalen Roten Kreuzes und zwei israelische Soldaten kümmerten sich um sie.
Sie winkten sie heran zu einem Lastwagen, wo ein Turm von flachen Matzen, das sind Scheiben ungesäuerten Brotes, lag. Daneben standen Kessel mit Wasser, und jeder durfte einen Blechbecher voll trinken und eine Matze mitnehmen.
Dr. Schumann straffte sich. Mahmud, der hinter ihm ging, beugte sich vor. »Ich habe den Finger am Abzug«, flüsterte er. »Gehen Sie weiter. Nehmen Sie ein Brot, trinken Sie einen Becher Wasser … Ihr Heldentum würde zwei Sekunden dauern. Was haben Sie davon, wenn man Sie heute abend hier am Jordanufer begräbt?«
Dr. Schumann ging weiter.
Er ließ sich die Matze geben und steckte sie in einen alten Sack, den er in der Hand hielt. Er kam zu den Wasserkesseln und schlürfte das warme Wasser, das streng schmeckte und zwischen den Zähnen knirschte. Er sah den israelischen Soldaten groß an, er wandte sich um zu dem Rotkreuz-Helfer, einem Europäer, vielleicht sogar ein Schweizer … dreißig Zentimeter trennten ihn von der Freiheit … und zwei Sekunden vom Tod. Um ihn herum brandete der Lärm von Tausenden von Flüchtlingen. Frauen und Kinder weinten, Motoren heulten auf. Kommandos ertönten, auf den schwankenden Holzstegen balancierten die Menschen über den Fluß. Sie trugen Kessel und Matratzen über den Köpfen ans andere Ufer, Stühle und Schrankteile, lahme Alte und quäkende Säuglinge, Bettgestelle und zusammengerollte Teppiche, Tische und Kisten mit Hausrat. Am steilen Ufer, neben dem Laufsteg, saß ein junger Bursche und hielt ein altes Trichtergrammophon auf den Knien. Er hatte es geerbt von seinem Vater, und dieser hatte erzählt, der Großvater habe es von einem englischen Offizier geschenkt bekommen. Nun war es das letzte, was der Junge noch besaß, und er wollte es mitnehmen über den Fluß.
»Zuerst Frauen, Kinder und Alte!« hieß es an diesem Tag, an dem über sechstausend Flüchtlinge vor der zerstörten Brücke standen. Und so saß der Junge am Ufer im Sand und ab und zu drehte er mit der Kurbel die Feder auf, legte eine Platte
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