Das Mädchen auf den Klippen - Riley, L: Mädchen auf den Klippen - Girl on the Cliff
wieder einen Blick in die Zukunft wagte, hatte Mary das Gefühl, dass die ihre genauso ungewiss war wie eh und je. Sie sah keinen Sinn darin, nach Irland zurückzukehren, bevor sie nichts über Seans Verbleib wusste. Hier in London hatte sie wenigstens zu tun, und das Geld unter ihrer Matratze wurde von Monat zu Monat mehr.
»Es ist das Beste, wenn ich hier bei dir bleibe, stimmt’s?«, murmelte sie, während sie Anna badete. »Solange Sean nicht da ist, zieht mich nichts nach Irland.«
Vor Weihnachten wurden allmählich wieder Gäste nach Cadogan House eingeladen. Eines Morgens Mitte Dezember rief Lawrence Lisle Mary in den Salon.
»Mary, nimm Platz.«
Sie hob überrascht eine Augenbraue und setzte sich unsicher, weil sich dies in Gegenwart der Herrschaften für Bedienstete nicht schickte.
»Ich wollte dich fragen, wie Anna sich macht.«
»Wunderbar. Sie krabbelt schon. Ich habe meine liebe Mühe, ihr nachzukommen, weil sie so schnell ist! Bald kann sie laufen, und dann haben wir ein Problem«, erzählte Mary begeistert.
»Gut, gut. Mary, dir ist vermutlich aufgefallen, dass das Haus zu neuem Leben erwacht. Deshalb brauchen wir wieder jemanden, der bei Tisch bedient.«
Mary sank der Mut. »Ja, Sir.«
»Das war früher deine Aufgabe.«
»Ja, Sir.« Mary senkte den Blick.
»Mrs. Carruthers hat den Eindruck, dass du Geschick im Umgang mit Anna beweist und eine enge Beziehung zu ihr aufgebaut hast, die gut für das Kind ist. Deshalb möchte ich dich fragen, wie deine Pläne aussehen, Mary. Es tut mir leid zu hören, dass dein Verlobter vermisst wird. Ich möchte dir anbieten, offiziell das Kindermädchen der Kleinen zu werden. Vorausgesetzt, du kehrst nicht sofort nach Irland zurück, sobald dein Verlobter auftaucht.«
»Ich weiß nicht, ob er das jemals tut. Solange er weg ist, würde ich sehr gern weiter auf Anna aufpassen. Falls er jedoch tatsächlich nach Hause kommt, müsste ich wahrscheinlich mit ihm heim nach Irland. Das sollten Sie wissen, Sir.«
Lawrence Lisle überlegte kurz. »Mit dem Problem können wir uns beschäftigen, wenn es aktuell wird, nicht wahr?«
»Ja, Sir.«
»Wir müssen jeden Tag nehmen, wie er kommt. Mrs. Carruthers versichert mir, dass du dich ausgezeichnet um Anna kümmerst. Wenn du mein Angebot annimmst, erhältst du zehn Shilling im Monat mehr, und Mrs. Carruthers besorgt dir eine Uniform. Ich möchte nicht, dass meine Freunde denken, ich würde nicht alles in meiner Macht Stehende für das Kind tun.«
»Danke, Sir. Ich verspreche Ihnen, mich weiter bestmöglich um Anna zu kümmern. Sie ist so ein hübsches Mädchen. Vielleicht kommen Sie einmal ins Kinderzimmer, um sie sich anzusehen. Oder soll ich sie zu Ihnen bringen?«, erbot sie sich.
»Bring sie gelegentlich zu mir. Danke, Mary, weiter so. Würdest du nun Mrs. Carruthers bitten hereinzukommen, damit wir über die Einstellung eines neuen Dienstmädchens sprechen können?«
»Natürlich, Sir.« Mary stand auf und ging zur Tür, wo sie sich umwandte. »Sir, glauben Sie, die Mutter der Kleinen wird sie jemals abholen?«
Lawrence schüttelte seufzend den Kopf. »Das bezweifle ich sehr.«
Mary ging beschwingten Schrittes, jedoch auch mit schlechtem Gewissen in die Küche. Vielleicht hatte sie ihren geliebten Sean verloren, aber immerhin war ihr Anna geblieben.
Die Monate vergingen. Mary stand mit anderen verzweifelten Frauen, die noch immer ihre Männer vermissten, vor dem Schreibtisch eines Beamten im War Office. Der Mann suchte auf seiner Liste nach Seans Namen.
»Tut mir leid, Madam, nichts Neues. Feldwebel Ryan ist nach wie vor nicht aufgefunden worden, weder lebend noch tot.«
»Ist er möglicherweise noch am Leben und hat das Gedächtnis verloren?«
»Könnte gut sein, Madam. Gedächtnisverlust tritt bei vielen Soldaten auf. Allerdings hätte man ihn vermutlich aufgespürt, wenn er am Leben wäre. Die Uniform der Irish Guards ist sehr auffällig.«
»Sollten seine Familie und ich weiter auf seine Heimkehr hoffen?«
Der Blick des Mannes verriet, dass er diese Frage mehrmals täglich hörte.
»Solange keine … äh … Leiche identifiziert ist, besteht Hoffnung. Allerdings weiß ich nicht, wie lange. Wenn Feldwebel Ryan in den kommenden Wochen nicht gefunden wird, setzt sich das War Office mit Ihnen in Verbindung, und sein Status ändert sich in ›Vermisst, vermutlich tot‹.«
»Verstehe. Danke.«
Sechs Monate später erhielt Mary einen Brief vom War Office:
Sehr geehrte Miss Benedict,
bezugnehmend
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