Das Mädchen auf den Klippen - Riley, L: Mädchen auf den Klippen - Girl on the Cliff
vorübergehend dir zu übertragen. Im Moment wirst du als Dienstmädchen kaum gebraucht, und daran wird sich mit ziemlicher Sicherheit in den kommenden Monaten nicht viel ändern. Mrs. Carruthers und ich möchten, dass du dich ab sofort um das Kind kümmerst.«
»Verstehe, Sir. Wie alt ist es, Sir?«
Lawrence überlegte. »Das Mädchen dürfte nicht mehr als vier oder fünf Monate alt sein.«
»Gut, Sir, und wo ist die Kleine?«
»Da.«
Er deutete auf einen kleinen Korb auf einer Chaiselongue am anderen Ende des Salons. »Sieh sie dir ruhig an.«
»Ja, Sir.«
Als Mary zu dem Korb hinüberging und vorsichtig hineinspähte, fügte Lawrence hinzu: »Ich finde sie sehr hübsch, obwohl ich nicht viel Erfahrung mit kleinen Kindern habe. Und sie ist ziemlich brav. Auf der Reise von Frankreich hierher hat sie kaum einen Mucks getan.«
Mary betrachtete die dichten, dunklen Haare und die helle, makellose Haut. Die Kleine schlief, den Daumen im Mund, tief und fest.
»Ich habe sie vor einer Stunde gefüttert«, teilte Mrs. Carruthers Mary mit. »Wenn sie Hunger hat, kräht sie ordentlich. Du weißt, wie man ein Kleinkind wickelt und mit der Flasche füttert?«
»Natürlich, Mrs. C. Wie heißt sie denn?«
Lawrence zögerte kurz, bevor er antwortete: »Anna. Sie heißt Anna.«
»Was für ein hübsches Kind«, flüsterte Mary. »Sir, ich kümmere mich gern um sie.«
»Gut, dann wäre das also geregelt.« Lawrence wirkte erleichtert. »Die Kleine schläft im zweiten Stock; das Kinderzimmer ist bereits hergerichtet. Du wohnst bei ihr, damit du sie jederzeit füttern kannst. Fürs Erste bist du sämtlicher Pflichten im Haushalt enthoben. Du und Mrs. Carruthers, ihr kauft alles Nötige: Kinderwagen, Kleidung und so weiter.«
»Hat sie denn nichts anzuziehen, Sir?«
»Die Mutter hat ihr für die Reise eine kleine Tasche mitgegeben. Mehr besitzt sie nicht. Ich würde vorschlagen«, er deutete auf die Tür, »dass du sie und deine Sachen gleich nach oben bringst.«
»Darf ich fragen, aus welchem Land die Kleine stammt?«, erkundigte sich Mary.
Lawrence Lisle runzelte die Stirn. »Offiziell kommt das Kind aus England. Falls irgendjemand – auch von den Bediensteten – fragt: Sie ist die Tochter eines engen Freundes von mir, dessen Frau bei der Geburt krank wurde. Und ihr Vater ist einen Monat später im Kampf gefallen. Ich habe die Vormundschaft übernommen, bis ihre Mutter kräftig genug ist, sich selbst um sie zu kümmern. Hast du das verstanden, Mary?«
»Ja, Sir. Ich verspreche Ihnen, so gut wie möglich auf Anna aufzupassen.«
Mary machte einen Knicks, verließ den Raum und trug den Korb in den zweiten Stock hinauf. Oben wartete sie, bis Mrs. Carruthers sich zu ihr gesellte.
Mrs. Carruthers führte sie den Flur hinunter zu einem Zimmer mit Blick auf den Garten gegenüber. »Ich gebe euch dieses Zimmer, weil es am weitesten von Mr. Lisles weg ist. Egal, was er sagt: Wenn das Kind Hunger hat, brüllt es, und ich möchte nicht, dass er gestört wird.«
Mary staunte über den schönen Raum mit Frisierkommode, bequemem schmiedeeisernem Bett und Tagesdecke.
»Bild dir ja nichts ein, Fräulein«, ermahnte Mrs. Carruthers sie. »Das Zimmer kriegst du nur vorübergehend, weil du dich in der Nacht um das Kind kümmern musst. Mr. Lisle stellt bestimmt so bald wie möglich ein Kindermädchen ein. Aber im Krieg ist es schwer, ein gutes zu finden. Sei dankbar, dass ich dich für diese Aufgabe vorgeschlagen habe. Enttäusch mich nicht.«
»Ich werde mir Mühe geben, Mrs. C.«, versicherte Mary ihr. »Für die Kleidung der Kleinen müssen wir kein Geld ausgeben. Ich kann mit Nadel und Faden umgehen und nähe gern.«
»Gut. Hol deine Sachen aus deinem alten Zimmer. Gleich nebenan sind eine Toilette und ein Bad. Du brauchst jetzt keinen Nachttopf mehr, du Glückspilz.«
»Danke für die Chance, Mrs. C.«
»Obwohl du aus Irland kommst, bist du ein anständiges Mädchen, Mary.« Mrs. Carruthers ging zur Tür und blieb stehen. »Irgendwas ist an der Sache faul. Als du mit dem Kind weg warst, hat Mr. Lisle mich gebeten, Smith zu rufen, damit der einen kleinen Koffer in den Speicher bringt. Er soll dort für die Mutter des Mädchens aufbewahrt werden, bis sie ihn holt. Das Kind sieht mir überhaupt nicht englisch aus«, stellte sie mit einem Blick in den Korb fest. »Dir?«
»Die dunklen Haare und die helle Haut sind ungewöhnlich, das stimmt«, pflichtete Mary ihr bei.
»Ich wette, sie ist eins von diesen Russenkindern«,
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