Das Mädchen auf den Klippen - Riley, L: Mädchen auf den Klippen - Girl on the Cliff
Meinung.
»Sie hat ihn genau da, wo sie ihn haben wollte«, seufzte Mrs. Carruthers. »Ich hätte nicht gedacht, dass Mr. Lisle so grausam sein könnte. Arme Kleine. Er würdigt Anna kaum noch eines Blickes.«
»Bestimmt würde er sich von Mrs. Lisle eine Ohrfeige einhandeln, wenn er es täte«, bemerkte Nancy. »Wahrscheinlich hat er genauso viel Angst vor ihr wie wir. Sie hat immer was auszusetzen, egal, was man macht. Wenn das so weitergeht, hätte ich gute Lust zu kündigen. Heutzutage finden Frauen auch anderswo Arbeit, sogar gut bezahlte.«
»Stimmt«, pflichtete Mrs. Carruthers ihr bei. »Meine Freundin Elsie sagt, gleich auf der anderen Seite des Platzes suchen sie eine Haushälterin. Vielleicht stelle ich mich da vor.«
Mary lauschte ihnen traurig. Sie wusste, dass sie nicht einfach gehen konnte.
Die Bediensteten lebten in einem permanenten Zustand der Anspannung, weil sie wussten, dass sie die neue Mrs. Lisle niemals zufriedenstellen konnten. Zuerst kündigte das Dienstmädchen, dann die Köchin. Smith, der Butler, beschloss, sich aufs Altenteil zurückzuziehen. Mary bemühte sich, so gut es ging, mit Anna aus der Schusslinie zu bleiben. Sie durfte Anna nicht begleiten, wenn diese in den Salon gerufen wurde, und wartete nervös vor der Tür, bis sie, oft tränenüberströmt, wieder herauskam. Elizabeth Lisle kritisierte Anna, wenn sie stotterte, die Haarschleife nicht richtig gebunden war oder sie Schmutzspuren auf der Treppe hinterließ – immer war Anna schuld.
»Sie hasst m-mich«, weinte Anna sich eines Abends bei Mary aus.
»Sie hasst dich nicht, Liebes, sie ist einfach so. Bei allen.«
»Schön ist das aber nicht, oder, Mary?«
Da konnte Mary ihr nicht widersprechen.
15
Im Herbst 1927, Anna war neun, wurde Lawrence Lisle als britischer Konsul nach Bangkok versetzt. Elizabeth Lisle wollte ihm drei Monate später folgen.
»Immerhin müssen wir sie jetzt nur noch ein paar Wochen ertragen«, lautete Mrs. Carruthers’ Kommentar. »Mit ein bisschen Glück kommen sie erst in einigen Jahren zurück.«
»Vielleicht stirbt sie an einer Tropenkrankheit und kommt gar nicht wieder«, meinte Nancy.
Lawrence Lisle verabschiedete sich ziemlich kurz und spröde von Anna, weil seine Frau neben ihm stand und jede seiner Gesten beobachtete.
Sie umarmte er. »Schatz, wir sehen uns in Bangkok.«
»Ja. Mach dir keine Sorgen. Ich sorge schon dafür, dass der Haushalt in deiner Abwesenheit gut geführt wird.«
Zwei Tage später rief sie Mary in den Salon.
»Mary …« Elizabeth Lisle rang sich ein schmallippiges Lächeln ab. »Ich wollte dir mitteilen, dass wir deine Dienste nicht mehr benötigen. Angesichts meiner baldigen Abreise nach Bangkok habe ich beschlossen, Anna in ein Internat zu geben. Mr. Lisle und ich werden mindestens fünf Jahre in Bangkok sein. In dieser Zeit brauchen wir dieses Haus nicht. Es wäre Geldverschwendung, das Personal in unserer Abwesenheit weiterzubeschäftigen. Mir ist klar, dass du dich die letzten neun Jahre um Anna gekümmert hast und die Trennung für euch hart wird. Deshalb bekommst du einen Monatslohn. Wenn ich Anna Ende der Woche in ihre neue Schule bringe, verlässt du Cadogan House. Ich sage ihr morgen Bescheid. Ich halte es für das Beste, wenn du vorerst nichts darüber verlauten lässt, dass du gehst. Wir wollen ja nicht, dass das Kind hysterisch reagiert.«
Mary klangen die Ohren. »Aber … Ma’am, ich kann mich doch von ihr verabschieden, oder? Sie darf nicht denken, dass ich sie im Stich lasse. Bitte, Mrs. Lisle … Ich meine, Ma’am«, flehte Mary.
»Anna kommt schon zurecht. Du bist nicht ihre leibliche Mutter. Sie wird mit Mädchen ihres Alters und ihrer Schicht zusammen sein«, fügte Elizabeth Lisle hinzu.
»Und was ist mit den Ferien?«
»Wie viele Waisen oder Kinder, deren Eltern im Ausland leben, bleibt sie in der Schule.«
»Das heißt, die Schule wird ihr neues Zuhause?«, fragte Mary entsetzt.
»So könnte man es ausdrücken, ja.«
»Darf ich ihr wenigstens schreiben?«
»Nein. Unter den gegebenen Umständen würde sie das zu sehr aus der Fassung bringen.«
Mary wusste, dass sie nicht weinen durfte. »Kann ich wenigstens erfahren, wohin Sie sie bringen?«
»Ich halte es für das Beste, wenn du das nicht weißt, denn dann gerätst du nicht in Versuchung, Kontakt mit ihr aufzunehmen. Ich habe alles für die Schule organisiert. Du musst nur noch ihre Kleidung mit Namensschildchen versehen und ihren Koffer und deine eigenen Sachen packen.«
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