Das Mädchen auf den Klippen - Riley, L: Mädchen auf den Klippen - Girl on the Cliff
Elizabeth Lisle erhob sich. »Als Mündel von Mr. Lisle und mir kann sie nicht das ganze Leben lang von Bediensteten aufgezogen werden. Das Mädchen muss für später Manieren und Anstand lernen.«
»Ja, Ma’am«, presste Mary hervor.
»Du kannst gehen, Mary.«
Mary blieb an der Tür stehen. »Was ist mit ihren Ballettstunden? Kann sie sie an der Schule fortsetzen? Sie ist so begabt … das sagen alle … Und Mr. Lisle war es so wichtig …«
»Als seine Frau und Vormund des Kindes in Abwesenheit meines Mannes handle ich in seinem Namen und entscheide, was das Beste für Anna ist.«
Mary, die wusste, dass es keinen Sinn hatte, weiter mit ihr zu diskutieren, verließ den Raum.
Da Mary Anna nichts über ihre unmittelbar bevorstehende Trennung verraten durfte, bemühte sie sich, sie zu trösten, während sie Namensschildchen in die Schuluniform nähte und alles zurechtlegte, was sie ins Internat mitnehmen würde.
»Ich will nicht weg in d-die Schule, Mary. Ich will nicht weg von d-dir, den anderen und meinen B-Ballettstunden.«
»Das weiß ich, Liebes, aber Onkel und Tante halten es für das Beste. Vielleicht fühlst du dich in Gesellschaft anderer Mädchen deines Alters ja auch wohl.«
»Was b-brauche ich sie, wenn ich d-dich und meine Freunde in der K-Küche habe? Mary, ich habe Angst. Bitte sag T-Tante, dass sie mich nicht wegschicken soll. Ich verspreche, immer artig zu sein«, bettelte Anna. Mary legte die Arme um das schluchzende Mädchen. »Du sagst doch der P-Prinzessin, dass ich in den Ferien wieder d-da bin, oder? Sag ihr, ich übe auch in der Schule f-fleißig und enttäusche sie nicht.«
»Natürlich.«
»Die Z-Zeit wird schnell vergehen. B-Bis zu den Ferien dauert’s nicht lange, und dann b-bin ich wieder bei dir.«
Mary hatte Mühe, die Tränen zurückzuhalten, als sie hörte, wie Anna sich selbst Mut zuzusprechen versuchte. »Nein, es dauert nicht lange.«
»Und d-du wartest hier auf mich, Mary? Was machst du, wenn ich weg b-bin? Du wirst d-dich furchtbar langweilen.«
»Vielleicht gönne ich mir einen kleinen Urlaub.«
»Aber sei w-wieder da, wenn ich von d-der Schule heimkomme, ja?«
»Ja, Liebes, das verspreche ich dir.«
An dem Tag, als Anna ins Internat aufbrechen sollte, klopfte es um neun Uhr morgens an Marys Tür.
»Herein.«
Anna trug ihre neue Schuluniform, die so groß gekauft war, dass sie hineinwachsen konnte. Sie schien fast darin zu ertrinken, und ihr herzförmiges Gesicht wirkte erschöpft und blass.
»T-Tante meint, ich soll dir auf W-Wiedersehen sagen. Sie will unten keine Szene.«
Mary nickte und umarmte sie. »Mach mir keinen Kummer, ja?«
»Ich versuch’s, M-Mary, aber ich hab A-Angst.« Annas Stottern war in der vergangenen Woche schlimmer geworden.
»Ein paar Tage, dann gefällt’s dir dort, da bin ich mir sicher.«
»Nein. Ich w-werd’s hassen«, murmelte sie. »Schreibst d-du mir jeden T-Tag?«
»Natürlich.« Mary schob sie sanft von sich weg und sah sie lächelnd an. »Nun geh mal lieber.«
Anna nickte. »Ja. Auf W-Wiedersehen, M-Mary.«
»Auf Wiedersehen, Liebes.«
Mary blickte Anna nach. Als Anna die Tür erreichte, wandte sie sich noch einmal zu ihr um. »W-Wenn die anderen M-Mädchen mich nach meiner M-Mutter fragen, erzähle ich ihnen von dir. Ist d-dir das recht?«
»Ach, Anna, natürlich.«
Anna nickte traurig.
»Vergiss nicht«, sagte Mary, »eines Tages wirst du eine große Ballerina sein. Halt an deinen Träumen fest, ja?«
»Ja.« Anna lächelte matt. »Ich v-versprech’s.«
Mary sah von ihrem Fenster aus zu, wie Anna Elizabeth Lisle zum Wagen folgte, der sich kurz darauf entfernte. Zwei Stunden später waren Marys Sachen ebenfalls gepackt. Elizabeth Lisle hatte ihr den letzten Lohn ausgezahlt, und mithilfe von Mrs. Carruthers hatte Mary ein Zimmer in einer Pension in Baron’s House einige Kilometer entfernt reserviert, in dem sie bleiben wollte, bis sie wieder in der Lage war, klarer zu denken und Entscheidungen zu fällen.
Um weitere tränenreiche Abschiede zu vermeiden, hinterließ Mary für Mrs. Carruthers und Nancy Briefe auf dem Küchentisch. Dann nahm sie ihren Koffer, öffnete die hintere Tür und tat den ersten Schritt in eine ungewisse Zukunft.
Aurora
So ist die arme, gutherzige Mary also von der bösen Stiefmutter auf die Straße gesetzt worden. Vielleicht ist sie das Aschenputtel meiner Geschichte und Anna die kleine Waise, der es zwar nicht an Geld, wohl aber an Liebe mangelt und die nun im Internat allein
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