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Das Mädchen auf den Klippen - Riley, L: Mädchen auf den Klippen - Girl on the Cliff

Das Mädchen auf den Klippen - Riley, L: Mädchen auf den Klippen - Girl on the Cliff

Titel: Das Mädchen auf den Klippen - Riley, L: Mädchen auf den Klippen - Girl on the Cliff Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lucinda Riley
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zurechtkommen muss.
    Marys Briefe an ihre künftige Schwiegermutter Bridget, die Grania bis tief in die Nacht hinein gelesen hatte, endeten hier. Ich kann verstehen, warum Marys Stolz sie daran hinderte, Seans Eltern weiter zu schreiben.
    Als Grania die Lektüre der Briefe beendet hatte, ging sie zu ihrer Mutter und bat sie, ihr zu erzählen, was später aus Mary geworden war. Dabei wurden wieder unzählige Tassen Tee getrunken; denn Tee spielte eine große Rolle in unserem Leben im Farmhaus von Dunworley.
    Heute trinke ich kaum noch welchen, weil mir davon wie von den meisten Dingen übel wird.
    Aber ich schweife ab. In jedem guten Märchen findet die traurige Prinzessin am Ende das Glück bei ihrem Prinzen.
    Mich interessiert jedoch mehr, was nach dem »Und sie lebten glücklich und zufrieden bis an ihr Lebensende« geschieht.
    Prinzessin Aurora aus Dornröschen beispielsweise erwacht nach hundertjährigem Schlaf. Gütiger Himmel! Rein rechnerisch ist sie hundertsechzehn Jahre alt und ihr Prinz achtzehn. Was für ein Altersunterschied! Ganz abgesehen davon, dass sie mit einer ziemlich veränderten Welt konfrontiert ist.
    Ich gebe der Beziehung keine allzu guten Chancen.
    Aber so sind Märchen nun mal. Zurück zu Mary, deren Prüfungen denen Prinzessin Auroras meiner Ansicht nach vergleichbar sind. Vorausgesetzt natürlich, sie begegnet ihrem Prinzen.
    Nun, wir werden sehen …

16
    Am schlimmsten fand Mary, dass sie so viel Zeit zum Nachdenken hatte. Bisher waren sämtliche Tage in den neunundzwanzig Jahren ihres Lebens mit Arbeiten für andere ausgefüllt gewesen. Jetzt gehörte ihre Zeit ihr, und sie zog sich endlos dahin.
    Außerdem wurde ihr klar, dass sie sich bislang immer in Gesellschaft anderer Leute befunden hatte, weswegen sie sich in ihrem winzigen Zimmer unerträglich einsam fühlte. Gedanken an ihre Verluste – ihre Eltern, ihr Verlobter und das Mädchen, das sie geliebt hatte wie ihr eigenes Kind – quälten sie, wenn sie vor dem Gasofen saß. Anderen mochte es gefallen, wenn keine Glocke und kein lautes Klopfen an der Tür sie weckten, aber für Mary war es schwierig, nicht mehr »gebraucht« zu werden.
    An Geld mangelte es ihr nicht, weil sie in den fünfzehn Jahren bei den Lisles Ersparnisse angesammelt hatte, die leicht fünf Jahre reichten. Sie hätte sich eine weit behaglichere Bleibe leisten können als das Zimmerchen.
    An den meisten Nachmittagen saß Mary in Kensington Gardens, wo sie wie früher die Kindermädchen mit ihren Schützlingen beobachtete. Und wie früher redeten sie nicht mit ihr.
    In ihren düstersten Momenten glaubte Mary, dass es niemanden gab, den es interessierte, ob sie lebte oder nicht. Sie war unwichtig und ersetzbar, sogar für Anna, der sie so viel Liebe geschenkt hatte. Mary wusste, dass das Mädchen sich anpassen und ein neues Leben beginnen würde. So war das immer bei jungen Leuten.
    Zum Zeitvertreib nähte Mary sich in den einsamen Abendstunden eine neue Garderobe. Sie erwarb eine Singer-Nähmaschine und saß beim Licht einer schwachen Gaslampe an dem kleinen Tisch am Fenster mit Blick auf die Colet Gardens. Beim Nähen musste sie nicht nachdenken, und der kreative Prozess tröstete sie. Wenn ihr rechter Arm vom Drehen des Rads an der Maschine müde wurde, machte sie eine Pause und schaute hinaus. Oft sah sie einen Mann, der an einem Laternenpfahl direkt unter ihrem Fenster lehnte. Er wirkte jung – nicht älter als sie selbst – und stand stundenlang, den Blick in die Ferne gerichtet, dort.
    Nach einer Weile wartete Mary bereits darauf, dass er kam, für gewöhnlich gegen sechs Uhr abends. Manchmal blieb er bis zum frühen Morgen.
    Die Gegenwart dieses einsamen jungen Mannes tröstete Mary, obwohl sie den Eindruck hatte, dass er nicht ganz richtig im Kopf war.
    Die Tage wurden kürzer, und der junge Mann stand nach wie vor am Laternenpfahl. Während Mary sich in die warmen Kleider hüllte, die sie sich genäht hatte, schienen die sinkenden Temperaturen ihn nicht zu beeindrucken.
    Eines Abends im November, als Mary vom Tee mit Nancy spät nach Hause kam, blieb sie stehen, um ihn genauer zu betrachten. Er war groß gewachsen und hatte feine Züge, eine Adlernase und ein stolzes Kinn, und seine Haut schimmerte fahl im Licht der Laterne. Er war hager, fast schon ausgezehrt, doch Mary erkannte, dass er mit ein bisschen Fleisch auf den Knochen ziemlich gut ausgesehen hätte. Vom Fenster ihrer Wohnung aus behielt sie ihn weiter im Blick. Sie fragte sich, wie er in

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