Das Mädchen auf den Klippen - Riley, L: Mädchen auf den Klippen - Girl on the Cliff
habe ich dir zu verdanken.« Anna schluckte. »Danke«, flüsterte sie, »danke für alles.«
Mary blickte mit gemischten Gefühlen auf diesen Abend zurück, weil ihr im Nachhinein klar wurde, dass sie damals begonnen hatte, ihre Tochter zu verlieren. Die bunte Welt der Künstler, in der Anna lebte, unterschied sich deutlich von der Marys. Als Anna zur Prinzessin des britischen Balletts heranwuchs und Bewunderer um sich scharte, entfernte sie sich immer mehr aus dem Kokon des Hauses in Kensington.
Mary war nach Annas Auftritten stets aufgeblieben, bis sie nach Hause kam, um sich anzuhören, wie der Abend verlaufen war, und um ihre erschöpfte Tochter mit Kakao und Keksen aufzupäppeln. Nun hörte sie Annas Schritte auf der Treppe oft erst um drei Uhr früh. Am folgenden Morgen erzählte sie dann von einem späten Dinner mit Freunden im Savoy Grill oder von einem Ausflug zu einem schicken Nachtklub, wo sie mit jungen Angehörigen der königlichen Familie getanzt habe.
Mary verlor den Überblick über das Leben ihrer Tochter. Da Anna jetzt selbst Geld verdiente, konnte sie sie nicht des leuchtend roten Lippenstifts oder der gewagten Kleider wegen rügen, die sie oft ohne Korsett trug. Die zahlreichen Blumensträuße, die bei ihnen zu Hause eintrafen, bewiesen, dass Anna einen stattlichen Kreis männlicher Bewunderer besaß. Ob einer ihr besonders am Herzen lag, wusste Mary nicht, weil Anna allen Fragen in dieser Richtung auswich.
Als Mary sich bei Jeremy beklagte, dass sie nichts über Annas Liebesleben wisse, tröstete dieser sie. »Anna ist eine sehr schöne junge Frau. Und berühmt. Sie t-tut, was sie will.«
»Schon möglich«, sagte Mary eines Abends gereizt, »aber ich bin alles andere als glücklich über den Zigarettenrauch, der nach Mitternacht aus ihrem Schlafzimmer dringt. Außerdem trinkt sie Alkohol.«
»Zigaretten und hin und wieder ein Gläschen Gin sind nun wahrlich keine Verbrechen, Mary. Am allerwenigsten für eine junge Frau, die jeden Abend ihr B-Bestes geben muss.«
Mary sah ihn frustriert darüber an, dass er immer zu Anna hielt. »Ich mache mir Sorgen um sie, das ist alles. Die Kreise, in denen sie verkehrt …«
»Sie ist erwachsen. Du musst sie ziehen lassen.«
Einige Wochen später spitzten sich die Spannungen zwischen Mary und Anna zu, als Anna nach der Vorstellung unangekündigt Freunde mit nach Hause brachte. Der Klang von Cole-Porter-Melodien vom Grammofon und das laute Lachen von Annas Gästen aus dem Wohnzimmer hielten Mary und Jeremy bis in die frühen Morgenstunden wach. Am folgenden Tag klopfte Mary, entschlossen, mit Anna zu sprechen, an deren Tür und machte sie auf. Anna schlief genauso tief und fest wie der junge Mann, der neben ihr im Bett lag. Entsetzt schlug Mary die Tür wieder zu.
Zehn Minuten später erschien Anna im Morgenmantel in der Küche und lächelte ihre Mutter verlegen an, die das Frühstücksgeschirr klappernd in die Spüle stellte. »T-Tut mir leid, wenn ich euch heute Nacht um den Schlaf gebracht habe. Ich hätte fragen sollen. Es war spät, und ich d-dachte …«
»Vergiss es! Aber was … wer war …?«
»Du meinst Michael?« Anna zog eine Packung Zigaretten aus der Tasche ihres Morgenmantels, zündete sich eine an und stützte sich an der Tischkante ab. »Ein Tänzerkollege. Und … mein Freund.« Sie zog an ihrer Zigarette. »Du hast doch nichts dagegen, oder? Schließlich bin ich über einundzwanzig.«
»Und ob ich was dagegen habe! Du magst in einer Welt leben, in der so etwas üblich ist, aber du hast eine zehnjährige Schwester. Solange du unter unserem Dach wohnst, nimmst du Rücksicht. Was denkst du dir dabei, Anna? Sophia hätte jederzeit in dein Zimmer kommen und ihn sehen können!«
»T-Tut mir leid, Mutter«, meinte Anna achselzuckend. »Die Welt hat sich verändert; heutzutage schert sich niemand mehr um Se…«
»Wage ja nicht, das Wort auszusprechen!« Mary erschauderte. »Wie kannst du nur so unverfroren sein? Schäm dich! Und ich schäme mich, weil du in dem Glauben aufgewachsen zu sein scheinst, dass ein solches Verhalten keine Sünde ist!«
»Mutter, wie kleinkariert …«
»Was fällt dir ein, so mit mir zu reden! Es ist mir egal, wer du auf der Bühne bist – solange du die Füße unter unseren Tisch streckst, hältst du dich an unsere Regeln! Und so was …«, Mary deutete nach oben, in die Richtung von Annas Zimmer, »… dulde ich nicht!«
Anna rauchte gelassen ihre Zigarette. Die Asche fiel auf den Boden, und Anna
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