Das Mädchen auf den Klippen - Riley, L: Mädchen auf den Klippen - Girl on the Cliff
gehören.« Anna schlüpfte aus ihrem Schuh und streckte das Bein. »Darf ich, b-bitte?«
»Frag deinen Vater, was er davon hält«, schlug Mary vor.
»Dann würde ich den g-ganzen T-Tag tanzen und keine Zeit für Englisch und Mathematik haben. Ich k-kann ja schon lesen und schreiben und rechnen. Mehr braucht man als T-Tänzerin doch nicht, oder? Und ich weiß die D-Daten der Schlachten von Hastings, Trafalgar und …«
»Anna«, wiederholte Mary, »sprich mit deinem Vater.«
Wie erwartet, war Jeremy Wachs in Annas Händen, und er erlaubte ihr, Ninette de Valois vorzutanzen, um möglicherweise einen Platz in der Ballettschule von Sadler’s Wells zu ergattern.
»Unsere liebe Anna würde sich sowieso nicht auf etwas anderes einlassen, b-bevor sie es nicht zumindest versucht hat«, erklärte Jeremy, der insgeheim stolz auf sie war.
Drei Tage später begleitete Mary Anna im Bus nach Islington, wo die Kurse der Sadler’s Wells Royal Ballet School stattfanden. Mary, die noch nie hinter der Bühne eines Theaters gewesen war, betrat aufgeregt den kleinen Probenraum mit Stange und Klavier. Anna musste Fragen über ihre bisherige Ausbildung beantworten, und die Lehrerin Miss Moreton prüfte sie auf Herz und Nieren, zuerst an der Stange, dann in der Mitte des Raums. Mary staunte, welche Fortschritte Anna in den vergangenen Jahren gemacht hatte und welche Anmut in ihren Bewegungen lag.
Nach dem letzten enchaînement musterte Miss Moreton Anna intensiv. »Du tanzt wie eine Russin und siehst auch so aus. Bist du eine?«
Anna fragte Mary mit einem Blick, und diese zuckte kaum merklich mit den Achseln und schüttelte den Kopf.
»Nein, ich bin Engländerin.«
»Sie wurde einige Jahre von Prinzessin Astafieva und Nicholas Legat unterrichtet«, erklärte Mary unsicher, weil sie keine Ahnung hatte, ob das für Anna sprach.
»Das sieht man an deinen Bewegungen. Wie du sicher weißt, Anna, sind wir im Sadler’s Wells von den Russen beeinflusst, aber Miss de Valois möchte mit uns, der ersten britischen Ballettcompanie, einen eigenen Stil entwickeln. Du bist begabt, doch der letzte Schliff fehlt dir noch. Kannst du am Montag anfangen?«
Annas dunkle Augen begannen zu strahlen. »Sie nehmen mich?«
»Ja. Ich gebe deiner Mutter eine Liste der Kleidung, die du für die Stunden brauchst, und die Ballettschuhe kauft ihr bei Frederick Freed. Bis Montagmorgen dann.«
Am Abend feierten sie zu Hause. Anna war außer sich vor Freude, und die ganze Familie ließ sich von ihrer Begeisterung anstecken.
»Du wirst mich auf der B-Bühne tanzen sehen, Sophia«, erklärte sie ihrer kleinen Schwester, während sie mit ihr durch die Küche wirbelte.
»Jetzt kann nichts mehr sie aufhalten, Liebes«, stellte Jeremy fest, als er sich später zu Mary ins Bett legte. »Hoffentlich wird ihr Traum wahr.«
In den folgenden fünf Jahren begannen sich Annas Entschlossenheit, Hingabe und Begabung auszuzahlen, und sie gab ihr Debüt im neu eröffneten Sadler’s Wells Theatre in der Rosebery Avenue. Bekleidet mit einem Kleiner-Lord-Anzug, eine Kurzhaarperücke auf dem Kopf, tanzte Anna als Erste auf die Bühne und verließ sie als Letzte. Mary, Jeremy und die neunjährige Sophia klatschten und jubelten, als die Truppe zum Schlussapplaus vor den Vorhang trat. Obwohl es nicht Annas Traumrolle im weißen Tutu war, nahm Ninette de Valois, die Leiterin der Companie, Notiz von ihr. Kleine Rollen in Schwanensee und Rio Grande folgten.
Im Januar 1939, kurz vor Annas einundzwanzigstem Geburtstag, gab sie im Sadler’s Wells vor ausverkauftem Haus ihr Debüt als Odette/Odile in Schwanensee . Zum ersten Mal führte eine englische, keine russische Primaballerina die britische Truppe an. Bei Ballettliebhabern wurde Anna bereits als Geheimtipp gehandelt. Mary saß, die Haare für diesen Anlass professionell frisiert, mit Jeremy und Sophia in einer Loge. Die ersten Takte von Tschaikowskis Musik erklangen, und die Zuschauer verstummten. Mary hielt den Atem an und betete, dass sich Annas lang gehegter Traum erfüllen möge.
Marys Zweifel waren unbegründet. Als es zur Feier des neuen Sterns am Balletthimmel Blumensträuße auf die Bühne regnete, drückte sie Jeremys Hand mit Tränen in den Augen. In der Garderobe wimmelte es von Gratulanten, so dass Mary kaum zu ihrer Tochter vordringen konnte. Anna, noch im Tutu und mit dicker Bühnenschminke, schlang die Arme um ihre Mutter.
»Liebes, ich bin ja so stolz auf dich. Du hast es tatsächlich geschafft!«
»Das
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