Das Mädchen auf den Klippen - Riley, L: Mädchen auf den Klippen - Girl on the Cliff
machte keinerlei Anstalten, sie aufzufangen. Schließlich nickte sie. »Mutter, ich habe verstanden. Ich bin erwachsen und verdiene selbst Geld. Vielleicht sollte ich mir eine eigene B-Bleibe suchen.«
Sie verließ die Küche ohne ein weiteres Wort und knallte die Tür hinter sich zu.
Am folgenden Tag packte sie ihre Koffer und zog aus.
Jeremy versuchte, seine Frau zu trösten, indem er ihr versicherte, dass Annas Verhalten für ein modernes Mädchen vollkommen normal sei, besonders wenn es von so vielen Bewunderern umschwärmt werde. Obwohl das, was Jeremy sagte, Sinn ergab, kam Mary mit Annas abruptem Auszug schlecht zurecht.
In den folgenden Wochen erfuhr Mary nur aus den Klatschspalten der Zeitungen und Zeitschriften von ihr. Bilder Annas in Begleitung von Herren der Oberschicht oder bekannten Schauspielern bei glanzvollen Veranstaltungen wurden überall abgedruckt. Das schüchterne kleine Mädchen, für das Mary so viel geopfert hatte, war zu einem Wesen geworden, das Mary nicht wiedererkannte, obwohl sie um den eisernen Willen Annas wusste. Was Anna wollte, erreichte sie für gewöhnlich, das hatte ihr kometenhafter Aufstieg bewiesen. Und die Leichtigkeit, mit der sie ihre Mutter, ihren Vater und ihre Schwester aus ihrem Leben ausschloss, zeugte von einer bisher ungekannten Gefühlskälte.
Als sich über Europa die Gewitterwolken des Kriegs zusammenbrauten, gesellten sich neue Probleme zu denen mit Anna. Jeremy, der sich in der Ehe mit Mary so positiv entwickelt hatte, litt wieder unter Albträumen. Das Zittern seiner Hände und sein Stottern verstärkten sich. Wenn er morgens die Times las, wurde sein Gesicht aschfahl. Er hatte kaum noch Appetit und zog sich in sich selbst zurück. Egal, wie oft Mary ihm versicherte, dass ihn, falls es tatsächlich zum Krieg kam, keine Armee der Welt haben wolle: Jeremys Angst, alles noch einmal erleben zu müssen, war stärker.
»D-Du verstehst das nicht, Mary. Anfangs interessieren sie sich vielleicht nicht für mich, aber sobald sie K-Kanonenfutter brauchen, nehmen sie jeden. Das weiß ich vom letzten M-Mal.«
»Jeremy, es steht in deinen Entlassungspapieren, dass du unter Granatenschock leidest. Sie wollen dich bestimmt nicht.«
»Ich musste v-viermal in die Schützengräben zurück, M-Mary, in einem viel schlimmeren Z-Zustand als heute.« Er schüttelte verzweifelt den Kopf. »Du kannst den K-Krieg nicht verstehen, Mary. Bitte versuch’s erst g-gar nicht.«
»Es heißt, dass es diesmal anders wird. Es gibt keine Schützengräben. Dieser Krieg wird mit modernen Mitteln geführt. Niemand will wieder eine ganze Generation von Männern verlieren. Bitte, Jeremy, die Dinge haben sich geändert.«
An diesem Punkt der Diskussion stand Jeremy für gewöhnlich mit ängstlich-frustrierter Miene auf und verließ den Raum.
Als sich herauskristallisierte, dass sich ein weiterer Krieg nicht vermeiden ließ, nahm Jeremy das Essen nicht mehr länger mit Frau und Tochter in der Küche ein, sondern allein in seinem Arbeitszimmer.
»Was ist los mit Papa?«, erkundigte sich Sophia, wenn Mary sie ins Bett brachte.
»Nichts, Liebes, er ist nur ein bisschen durcheinander.«
»Gibt es Krieg? Macht Papa sich deshalb Sorgen?«, fragte Sophia und sah Mary mit ihren großen grünen Augen an, die denen ihres Vaters so sehr ähnelten.
»Vielleicht. Daran lässt sich nichts ändern. Zerbrich dir darüber nicht den Kopf. Dein Daddy und ich haben den letzten überlebt, und wir schaffen’s auch diesmal.«
»Anna ist weg und Papa mit den Gedanken woanders. Nichts ist mehr so wie früher. Ich hab Angst. Mir gefällt das alles nicht.«
Mary nahm ihre Tochter in den Arm, strich ihr übers Haar, wie sie es früher bei Anna getan hatte, und murmelte tröstende Worte, die sie selbst nicht glaubte.
Im Verlauf des Sommers deutete immer mehr auf einen Krieg hin. Mary hatte das Gefühl, dass das ganze Land sich in einem Zustand hektischer Anspannung befand. Jeremy verfiel in Apathie. Inzwischen schlief er sogar in seinem Ankleidezimmer, vorgeblich, weil seine Albträume Mary störten. Mary flehte ihn an, sich mit seinem alten Regiment in Verbindung zu setzen, um seine Zweifel zu zerstreuen.
»Du bist als Invalide aus dem Militärdienst geschieden. Sie wollen dich bestimmt nicht. Bitte, Jeremy, schreib einen Brief und lass es dir bestätigen. Dann kannst du wieder ruhig schlafen.«
Doch Jeremy starrte auf seinem Stuhl im Arbeitszimmer vor sich hin, ohne sie zu hören.
Als Großbritannien
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