Das Mädchen aus dem Meer: Roman
von ihnen entfernte. Wärme – nicht die schwer erträgliche Hitze der vergangenen Tage, sondern eine wohlige, ungemein entspannende Wärme – breitete sich in seiner Brust aus.
»Stimmt«, bestätigte er deutlich ruhiger, aber nicht minder zuversichtlich. »Wir brauchen sie nicht mehr.«
»Wir sind gerettet«, wiederholte Chita glücklich.
Als das Mana außer Sichtweite war, griff Froh neuen Mutes und deutlich leichteren Herzens wieder zu den Rudern. Die Entscheidung war gefallen, man hatte seine Reue erkannt und akzeptiert. Nun musste er nur noch über das Ende der Welt hinauspaddeln.
»Der Junge, der Cocha heißt«, wandte er sich wieder an Chita, »hast du ihn jemals wiedergesehen? Oder hat dein Vater ihn auch … bestraft?«
Chita lachte. »Cocha …«, antwortete sie. »Wenn man aussieht wie Cocha, dann ist man gestraft fürs Leben, denke ich. Aber ich liebe ihn. Ich liebe ihn mehr als alles andere auf der Welt.«
11
H ätte mein Vater geahnt, was hinter Cochas gemeinhin ruhiger, damals noch leicht arroganter Fassade steckte, wie viel verbotenes Wissen er damals schon in sich trug, dann wäre er nicht darauf aus gewesen, die Streitereien zwischen ihm und mir zu schlichten, sondern hätte ganz im Gegenteil dafür gesorgt, dass wir uns nie wieder sehen. Er hätte ihn zumindest zum Rechtlosen erklärt, wenn nicht sogar gleich töten lassen. Und zwar nicht nur ihn, sondern seine ganze Familie: den Statthalter Viraluca, seine Mutter Milla, seine Geschwister, den Waffenmeister … Vielleicht auch all die Mägde und Knechte, die in ihren Diensten standen, nur sicherheitshalber. Oder er hätte die ganze Sippschaft unter einem Vorwand nach Walla verfrachten lassen – in dieses vermeintliche Paradies …
Aber mein Vater wusste es nicht, er ahnte es nicht einmal, denn Viraluca, also Cochas Vater, und er waren seit ihrer Jugend gut befreundet – ein Umstand, dem Viraluca gleich zwei meilenweite Karrieresprünge verdankte. Sie hatten sich in der Schulstadt Silberfels kennengelernt, die auch ich später besuchte. Beide waren als Novizen gekommen und als Rechenmeister heimgekehrt. Obwohl er noch sehr jung gewesen war, hatte mein Vater meinen Großvater dazu überreden können, Viraluca zum Schatzmeister Hohenheims zu ernennen, und als mein Großvater starb und mein Vater den Thron bestieg, beförderte er seinen Schatzmeister und Freund zum Statthalter Kirms – ein Zerwürfnis zwischen Viralucas Vorgänger und meinem Vater hatte den Posten günstigerweise freigemacht.
Die beiden waren jedenfalls ziemlich dicke miteinander. Es gab kaum einen Anlass, der ihnen nicht als Vorwand genügte, um ein paar ungestörte Stunden zwecks politischer oder ges chäftlicher Verhandlungen miteinander zu verbringen – so hieß es jedenfalls. Tatsächlich konnten sie ganze Nächte mit dem Erzählen von Anekdoten über ihre vorgeblich wilde Jugend, den immer gleichen Scherzen und sich stetig wiederholenden Geschichten aus vergangenen Zeiten füllen.
Und Viraluca war es ja auch nicht, der den Samen der Rebellion in seinem Sohn säte. Auch er wusste nicht, was in Cochas kritischem Köpfchen vor sich ging. Er hatte keine Ahnung, was ihn dazu bewegt hatte, mir, der Tochter des Faros, auf den Handrücken zu spucken, denn über seine Motivation schwieg sich Cocha seinem Vater gegenüber aus. Er trug die Strafe, die ihn für sein unverschämtes Verhalten ereilte, erhobenen Hauptes, sagte kein Wort, als man ihn zu den Ställen schickte, wo er die kommenden dreißig Tage schuftete wie ein gewöhnlicher Knecht, jammerte nicht, klagte nicht, aber redete eben auch nicht über das, was ihn so verärgert hatte.
Nur seine Mutter muss es gewusst haben, denn sie war diejenige, die nicht nur Cocha, ihren ältesten Sohn, sondern nach und nach all ihre Kinder mit rebellischem Gedankengut vergiftete, wie mein Vater es später in einem Schreiben an Gormo von Montania formulierte. Heute weiß ich, dass sie nichts anderes getan hat, als ihnen immerzu die Wahrheit zu sagen. Sie hat ihnen viel mehr von der Welt zu erzählt, als ich ohne Cocha vielleicht je erfahren hätte. Sie hat ihre Kinder gelehrt, die Dinge zu hinterfragen, wachsam zu bleiben und niemals zu vergessen, Mensch zu sein.
Das kann man vergessen?
Zumindest kann man es verdrängen. Die Vernunft kann ein erbarmungsloser Diktator sein.
Kaum hatte Cocha seine Strafe in den Ställen abgearbeitet, sah ich ihn aber auch schon wieder. Ich war alles andere als begeistert davon, wie du dir
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