Das Mädchen aus dem Meer: Roman
zugedacht hatte, in welcher Form auch immer. Nicht erst, als er mich bespuckte, sondern in dem Moment, in dem er das erste Mal mit mir gesprochen hatte. Als er mich fragte, ob ein Besen in meinem Hintern steckte, hatte er irgendetwas in mir geweckt. Und dieses Etwas hatte viel weniger mit verletztem Stolz zu tun, als ich damals noch glaubte.
Ich war noch ein Kind. Selbst wenn ich darüber nachgedacht hätte, warum mich Cochas Beleidigungen viel intensiver beschäftigten als zum Beispiel jene, die meine Cousinen dann und wann vom Stapel ließen, hätte ich dieses Gefühl nicht einordnen können. So war ich einfach nur übermäßig beleidigt und hatte keine Lust, ihn zu sehen.
Aber ich musste ja. Als Faronentochter hat man schon in jungen Jahren seine Verpflichtungen. Und man muss Form und Anstand wahren. Es war mir selten so schwergefallen wie an diesem Morgen.
Allerdings war ich nicht die Einzige, die den Anstand wahren musste. Während ich lustlos aus dem Bad schlurfte, fiel mir ein, dass niemand auch nur einen Kanten Brot in Sauce oder Sirup tauchen durfte, ehe auch der Letzte bei Tisch saß. Ich ging noch langsamer. Moijo trug es mit störrischer Geduld.
Im Speisesaal angelangt, hatten sich längst beide Familien vollständig versammelt und überbrückten die Wartezeit damit, Viralucas jüngstes Töchterchen von Hand zu Hand zu reichen, zu bestaunen und – du errätst es schon – Anekdoten aus vergangenen Tagen auszutauschen. Insgesamt schlug mir eine rundum gelöste Stimmung entgegen, was mich ein wenig kränkte.
Mit einem knappen Gruß auf den Lippen trollte ich mich auf meinen Platz zu Vaters Rechten. Niemand ging auf meine beabsichtigte Verspätung ein. Stattdessen erhob sich meine Mutter kurz von ihrem Platz und floskelte standesgemäß herum, ehe alle – insbesondere die Meute von Viralucas sommersprossigen Kindern – über die reich gedeckte Tafel herfielen.
Cocha saß mir direkt gegenüber, und ich fragte mich, ob er sich diesen Platz ausgesucht oder meine Eltern ihn ihm zugewiesen hatte, während ich mit finsterer Miene in meinem Hirsebrei mit Johannisbeersirup herumstocherte.
Cocha hingegen ließ es sich schmecken. Eine Unzahl Erdbeeren, Ananasscheiben, belegter Brotkanten und Stückchen von kaltem Braten verschwand binnen bemerkenswert kurzer Zeit in seinem Schlund. Und dabei beobachtete er mich.
Immer dann, wenn er sich nicht gerade darauf konzentrieren musste, irgendetwas auf seinen Teller zu schaufeln oder etwas zu zerteilen, sah er mich an, und obwohl sein Gesicht – abgesehen vom stetigen Mahlen seiner Kiefer – reglos war, war da irgendetwas, das mich ungemein provozierte. Alles an ihm wirkte ruhig und entspannt, und so sehr ich mich darum bemühte, irgendetwas zu entdecken, das ich hätte persönlich nehmen können, worüber ich mich bei seinen Eltern hätte beklagen können, damit sie ihn gleich hier vor mir zur Rechenschaft zogen, in Grund und Boden stampften, ihn zwangen, sich für alles, was er getan hatte, und alles, was er womöglich jemals tun würde, bei mir zu entschuldigen und um Gnade zu flehen: Ich konnte nichts finden. Nicht einmal schlechte Tischmanieren hätte ich ihm anlasten können, denn er aß zwar zügig und viel, schmatzte und kleckerte aber kein bisschen. Da war nur der ruhige Blick der Großkatze, die ihr nächstes Opfer beäugte, während sie sich an einem frischen Kadaver labte. Ohne Eile, ohne Gier, aber mit der unerschütterlichen Gewissheit, dass sie es erlegen konnte, sobald ihr danach war.
Ich hasste seine Gelassenheit, denn ich fühlte mich ihm unterlegen. Was nützt dem Huhn das Hausrecht, wenn der Wolf dem Bauern im Stall schwanzwedelnd die Wange leckt?
Genauso fühlte ich mich. Und ich sollte recht behalten.
Als alle gespeist hatten, wünschten unsere Eltern uns viel Glück für die Spiele und verabschiedeten sich von uns, um sich zu wichtigen geschäftlichen Besprechungen (also wahrscheinlich einem weiteren ausgiebigen Plausch) zurückzuziehen. Planmäßig sollten wir sie erst zur Siegerehrung am Nachmittag im Hof treffen. Aber dann kam alles anders.
Die Spiele waren gut besucht. Trotzdem gewann ich das Balancieren auf Zeit haushoch. Niemand hielt es so lange in aufrechter Haltung auf dem kaum armdicken Ast aus, der in drei Metern Höhe auf einer hölzernen Konstruktion in der Waagerechte schwebte. Doch das war keine Überraschung – im Balancieren und Klettern war ich immer gut gewesen, es fiel mir so leicht wie das Lesen und Schreiben, das
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