Das Mädchen aus dem Meer: Roman
Sternenhimmel hinauf. Auch er hatte eine lange Reise hinter sich und war erschöpft und müde. Seine Lider wurden schwer, und bald war auch er eingeschlafen. Er träumte von geflügelten Menschen auf prachtvollen Gefährten, von Rindern, die sich reiten ließen und Stöcke apportierten, und Fischern, die Wale zu Tode erschreckten, bis er jäh an der Schultern gepackt und unsanft aus dem Schlaf gerüttelt wurde.
Träge öffnete er ein Auge und blinzelte in das warme Licht des neuen Tages, bis sich Chita in sein Sichtfeld schob.
»Froh!«, schnappte sie aufgeregt und empört. »Du bist eingeschlafen! Wir treiben ziellos dahin!«
Froh richtete sich ungelenk halb auf und gähnte und streckte sich ausgiebig, ehe er antwortete: »Ja. Das tun wir wohl.«
»Wir sind vom Kurs abgekommen, Froh«, ereiferte sich Chita. »Das Boot treibt genau in die entgegengesetzte Richtung. Und es gibt kaum etwas, woran ich mich orientieren kann. Nur die Sonne. Wie lange hast du geschlafen, Froh? Wie viel Zeit ist uns verloren gegangen? Wir haben kein Wasser mehr!«
Froh beugte sich vor und langte zwischen ihren Unterschenkeln hindurch in einen der Säcke, um einen fast unterarmlangen Lachs daraus hervorzuziehen. Die Hitze des vergangenen Tages und des neuen Morgens hatte den Fischen im Sack arg zugesetzt, denn er hatte es versäumt, sie zum Trocknen über die Bootswand zu hängen oder darin zu verteilen, und als er den Sack öffnete, schlug ihm ein Gestank entgegen, der Chita sichtlich würgen ließ. Aber diese Fische waren alles, was sie noch hatten.
Froh rieb den angefaulten Lachs an seinem Lendenschurz trocken, biss die Flossen ab und spie sie ins Meer, ehe er das bittere und salzige Fleisch mit den Zähnen von den Gräten schabte. Chita beobachtete ihn zweifelnd und schüttelte angewidert den Kopf, als er ihr von seinem angenagten Lachs anbot. Froh zuckte die Schultern und frühstückte weiter.
»Du kannst auch einen eigenen Fisch haben«, bot er ihr an, aber sie lehnte ab.
»Du solltest dich beeilen und die Ruder wieder zur Hand nehmen«, drängte sie. »Jede Minute, in der die Wellen uns in die falsche Richtung schieben, kommt mit einem solch einfachen Boot fünf oder zehn gleich, in der wir mühselig zurückpaddeln müssen. Wir müssen dort entlang.«
Sie deutete wieder dahin, wo Ivi in der Nacht im Meer zu baden pflegte. Sein Boot trieb in die Himmelsrichtung, in der Kropp, der Gott der Fledermäuse und Motten, der Sonne Hausverbot erteilt hatte, was für Froh genauso in Ordnung war wie jede andere Himmelsrichtung. Außer jener, in die Chita von ihm zu paddeln verlangte. Man musste Ivis Geduld nicht überstrapazieren, fand er.
Froh, der von ruhigem und freundlichem Gemüt, aber noch nicht ganz wach und ein kleines bisschen gereizt war, seufzte tief und legte seinen Fisch betont langsam zur Seite. Er war mit großem Durst erwacht, und seine Haut, obgleich dunkel und widerstandsfähig, brannte und spannte, als ob sie sich in der Aussicht auf einen weiteren, viel zu heißen Tag von seinen Knochen schälen und ins kühle Nass der See flüchten wollte.
Nun, dachte er, während er ihrer Bitte widerstrebend, aber demütig nachkam, das war wohl der Preis …
»Der Preis?«, hakte Chita irritiert nach, und er bemerkte erst jetzt, dass er es laut ausgesprochen hatte. »Der Preis wofür?«
Froh schüttelte sich abwehrend. Darüber wollte er nicht sprechen.
Chita bedrängte ihn nicht mit weiteren Fragen, sondern wirkte gleich wieder abwesend und starrte mit leerem Blick auf die im Sonnenaufgang glitzernden, seichten Wellen hinaus. Auch ihr, registrierte Froh, hatte die Sonne arg zugesetzt – viel mehr als ihm sogar. Ihre helle Haut und das goldene Haar waren nicht dafür geschaffen, sich damit längere Zeit im Freien aufzuhalten. Zumindest nicht bei dieser Hitze. Ihre roten Lippen, die ihn gestern noch an saftige Früchte erinnert hatten, wirkten heute eher wie vertrocknetes Fallobst. An einer Stelle war ihre Unterlippe so stark eingerissen, dass sie leicht blutete. Dort, wo ihr sandfarbenes Gewand sie nicht schützte, also an den Armen, den Schultern und natürlich im Gesicht, pellte sich die oberste Hautschicht in Fetzen ab und hinterließ hässliche rote Flecken.
Gesandte der Götter hin oder her, dachte Froh – da, wo sie herkam, musste es viel kühler sein als bei ihm zu Hause. Bestimmt lebte ihre Familie in Wirklichkeit auf einem Berg – auf einem sehr hohen Berg. Je höher man stieg, das wusste er, desto kälter wurde
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